Das Herz in der Aldi-Tüte: Inneres Erleben bei Organtransplantation

Auszug aus dem Vortrag von Prof. Dr. med. Burkhard Brosig

Prof. Dr. med. Burkhard Brosig ist Facharzt für Psychosomatische Medizin, Allgemeine Pädiatrie und Neonatologie in Gießen. E-Mail
In dem US-amerikanisches Filmdrama aus 2008 Sieben Leben spielt Will Smith einen von Selbstzweifeln geplagten Mann, den ein schicksalhaftes Geheimnis umtreibt: Er bricht zu einer außergewöhnlichen Reise auf, an deren Ende sich sein Leben und das von sieben auserwählten Menschen für immer verändern werden: Schuldgefühle machen ihn zum Spender von Organen. Im Film wird eine Dynamik um Schuld, Opfer und Wiedergutmachung skizziert, die das Leben des Spenders ausbluten lässt: Er opfert sich, damit andere für ihn weiterleben können.

In der modernen pädiatrischen Kardiologie sind Herztransplantationen aufgrund schwerer angeborener Herzfehler und erworbener Herzmuskelschwächen inzwischen ein gut etabliertes Verfahren mit positiven Kurzzeiteffekten. Die Langzeitprognose ist vielversprechend, doch stellt die ständige Bedrohung durch Abstoßungsreaktionen, die permanente Betreuung und das Monitoring der medikamentösen Behandlung eine besondere Herausforderung dar. Zudem ist das Überleben des Transplantats bei Kindern zwar überdurchschnittlich lang, aber im Vergleich zur Lebensspanne eines Kindes begrenzt (Bauer, J. et al., 2001; 2007). Inzwischen sind in Gießen mehr als 100 Babys und der Kinder transplantiert worden.

Fallbeschreibung: Benjamin 10 Jahre alt
Der Junge wurde dem psychosomatischen Konsiliarius telefonisch angekündigt, weil er nach einer Herztransplantation, die er mit fünf Jahren erlebt hatte, Stimmen höre, die ihn sehr bedrängten. Im Familieninterview führt die Mutter aus, der Junge leide unter einem „komischen Bauchgefühl“ und „Stimmen im Kopf“. Die Erscheinungen, welche der Junge erlebe, würden immer konkreter. So sehe er einen weißen Raum, darin eine Person, die zu ihm sage, er solle kommen. Er suche Hilfe, aber müsse wahrnehmen, dass keiner ihm beistehe, er werde ausgelacht und das sei ihm peinlich.

Auch könne er nicht mehr allein sein, klammere sehr an seiner Mutter und schlafe schlecht. Sie versuche ihn immer wegzuschieben – in diesem Moment Ihres Berichts trägt sie das Wegschieben des Sohnes auch gestisch vor – aber je mehr sie schiebe, desto näher komme Mutter. Sie berichtet aus seinen Erzählungen über die kränkenden verbalen Angriffe der Klassenkameraden, die ihn ablehnten, weil er „ansteckend“ sei: „Geh weg, lang mich nicht an, Du machst mich krank“.

Die Mutter berichtet weiter, er sei kaufsüchtig, er sammle und sammle, wenn er es habe, sei es für ihn nicht mehr interessant. Vor allem seien es kleine Tiere, Insekten, Spinnen, andere Tiere, die das Kinderzimmer bevölkerten. Er müsse viel besitzen, derzeit sind es 95 Spielzeugtiere. Sie fragt sich, „ob diese Dinge etwas mit seiner Geschichte zu tun haben“. Unmittelbare Einfälle im Sinne interpretativer Ansätze zur Symptomatik hat die Mutter nicht, setzt aber in diesem Moment mit dem Bericht über die Biografie ihres Sohnes ein.

Da kam das Herz angeflogen ...

Im Alter von fünf Jahren kam er mit dem Verdacht auf Blinddarmentzündung in die Klinik. Bei einem sich weiter verschlechterten Zustand wurde eine Cardiomyopathie diagnostiziert. Es folgte eine Herzoperation in einer auswärtigen Klinik, dann eine Lymphoproliferative Erkrankung, „alles Schlag auf Schlag“. Auf die Frage, wie das denn für Sie (die Mutter) sei und ob sie denn all die Erlebnisse ertragen könne, antwortet sie: „Wir versuchen eben ein normales Familienleben zu haben, natürlich steht er im Mittelpunkt, aber wir versuchen, ein normales Leben zu haben.“ Sie fährt fort: „Er ist halt nicht so wild wie andere Jungs, (...) hat mehr zu Frauen Bezug“. Der Vater spielt im Leben der Familie keine Rolle, er wurde immer von der Mutter allein erzogen. Der Vater wisse nicht, wie er sei, müsse sich verstellen.

Ganz am Schluss des Gesprächs kommt die Sprache nochmals auf die Phantasie, wer dem Jungen das Herz gespendet haben könnte. Ob es der imaginäre Freund gewesen sei, der ihn im Kinderzimmer besucht habe? Da bricht es noch einmal sturzflutartig aus dem Jungen selbst heraus: „Da kam das Herz angeflogen, es war in einer Aldi-Tüte, bestimmt war es in einer Aldi-Tüte“. Er glaubt daran: „Als ich klein war, ist ein Junge für mich gestorben...“.

Die Mutter versucht ihn zu trösten. „Das verstört Sie wohl manchmal auch, dass ihr Sohn so intensiv über all das nachdenkt.“ Sie spricht dann aber nicht über sich, sondern bleibt beim Kind. In der Katamnese ein halbes Jahr später haben die Stimmen nachgelassen, er habe aber auch die Tiere „abgeschafft“, rede jetzt noch etwas weniger, sei immer noch sehr verschlossen. Die Therapeutin habe versucht, die Stimmen „in einen Tresor“ zu sperren, das habe ihr Junge aber nicht verstanden.  

Der Versuch, das Unfassbare handhabbarer zu machen
Zum Interview kommt eine Familie mit einer Problematik der Krankheitsverarbeitung einer Transplantation: Die Nachwirkungen der langen Krankheitsphase, die Stigmatisierung durch die medizinischen Interventionen mit Ausgrenzung durch die Peers, die regressive Bewegung hin zur eng erlebten Mutter-Kind-Beziehung unter Ausschaltung des Vaters als Triangulierung. Der Versuch der Mutter, möglichst bald wieder eine normale Familie zu werden, wird durch die massive Symptomatik des Sohnes konterkariert, der, in dem Versuch das erlebte psychisch zu verarbeiten, auf eine zwar liebevoll zugewandte, aber letztlich in ihren Möglichkeiten ihn zu verstehen überforderte Mutter trifft. Die Stimmen und der weiße Raum als Abbilder des Todes sowie die Sehnsucht nach dem imaginären Gefährten aus dem Totenreich stellen offenbar Versuche dar, mit dem Spender in ein Verhältnis zu treten, das Unfassbare handhabbar zu machen. Die Veränderung der Körperwahrnehmung findet ihren Ausdruck in der Idee eines zusammengekauften Körperinneren, angesprochen in der Kaufsucht, pointiert im Bild des Herzes in der Aldi-Tüte (vgl. Castelnuovo-Tedesco 1973).

Fazit: Transplantation ist vor allen Dingen ein Schicksal
Weder ist Transplantation eine rein medizinisch zu verstehende Operationstechnik, noch ist die Transplantation und eine rein betriebswirtschaftlich Tatsache, eine DRG im Entgeltsystem der Krankenhäuser, sie ist vor allen Dingen ein Schicksal, dass nicht verleugnen kann (Decker 2004). Hier treffen zwei Menschen im Sinne einer komplexen Täter-Opfersituation aufeinander, die günstigen Falls als Spender und Empfänger angesprochen werden können (Vgl. Brosig & Wodera 1993; Brosig & Decker 2006).

Literatur
Bauer, J., Bartram, U., Thul, J., & Schranz, D. (2007). Morbidity following heart transplantation. Monatsschrift Kinderheilkunde, 155, 1040-+.

Bauer, J., Thul, J., Kramer, U., Hagel, K. J., Akinturk, H., Valeske, K., Schindler, E., Bohle, R. M., & Schranz, D. (2001). Heart transplantation in children and infants: short-term outcome and long-term follow-up. Pediatr.Transplant., 5, 457-462.

Brosig, B. & Decker, O. (2006). Transplantate als innere Objekte?. In: Hensel, B. F., Scharff, D. & Vorspohl, E. (Hrsg.). W. R. D. Fairbains Bedeutung für die moderne Objektbeziehungstheorie, S. 257-272. Giessen: Psychosozial-Verlag.

Brosig, B. & Woidera, R. (1993). Nach einer Herz-Lungen-Transplantation. Psyche - Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 47, 1061-1079.

Castelnuovo-Tedesco, P. (1973). Organ Transplant, Body Image, Psychosis. Psychoanalytic Quarterly, 42, 349-363.

Decker, O. (2004). Der Prothesengott – Subjektivität und Transplantationsmedizin. Gießen: Psychosozial-Verlag
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