Das Maß des Menschen. Medizinethik zwischen Ökonomie und Liebe

Auszug aus dem Festvortrag von Prof. Dr. theol. Johannes von Lüpke

Fragen wir nach dem Maß, das im Menschen selbst liegt, verbindet sich dieser Begriff mit dem der Mitte. Schon in der Begriffsgeschichte zeigt sich, dass und wie „Maß“ und „Mitte“ in einem Fragehorizont zusammenkommen. Das maßvolle Verhalten wird plausibel als ein solches, das die Mitte zwischen den Extremen wahrt. Und wenn es ein Maß im Menschen gibt, dann darf unterstellt und erwartet werden, dass es den ganzen Menschen von innen heraus bestimmt und in der Vielzahl seiner Bestandteile und Funktionen zusammenhält. Und wenn der Mensch ein leib-seelisches Wesen ist, so ist von einer Mitte nur dann zu sprechen, wenn sie die Dualität von Leib und Seele zur Einheit integriert. Wo aber liegt eine solche integrierende und zugleich maßgebende Mitte?

Das Maß des Menschen ist nicht einfach mit einem körperlichen Phänomen zu identifizieren. Der Nabel mag ein Zeichen sein, das auf die Mitte hindeutet und dabei auch die Herkunft des Menschen, sein Geborensein in Erinnerung hält.

Die skeptische Frage, die im Johannesevangelium von Nikodemus an Jesus gerichtet wird (Joh 3,4), kann im Zeitalter der regenerativen Medizin noch einmal neu gestellt werden: Kann ein Mensch vielleicht doch geboren werden, wenn er alt ist? Zwar kann er auch heute nicht wieder in seiner Mutter Leib zurückgehen und noch einmal geboren werden; aber bieten sich nicht im Laboratorium der modernen Medizin vielfältige Möglichkeiten der Erneuerung bis ins hohe Alter hinauf?

Die neuen Möglichkeiten, die in der medizinischen Forschung entdeckt und entwickelt worden sind, erlauben es ja durchaus, Organe des Körpers sich regenerieren zu lassen, sie zu reparieren und auszutauschen. Zerstörerische, degenerative Prozesse können aufgehalten und umgekehrt werden. Wo etwas entzwei bricht oder zerfällt, werden neue Verbindungen hergestellt, Zellen, Gewebe und Organe eingesetzt, die neues Leben ermöglichen. Momente der Neugeburt mitten im Leben. Wird somit das Leben zu einer Kette von Erneuerungen? Kann die Lebensuhr, die auf ein Ende, auf die Stunde 12 zuläuft, immer wieder auf Null zurückgesetzt werden? Aber wo immer regenerative Medizin wirklich wirkt: regenerierend, erneuernd, vitalisierend, die Körperfunktionen stärkend, da erfüllen sich Hoffnungen. Menschen erfahren so etwas wie Lebensgewinn. Organe, die sich zuvor störend bemerkbar gemacht haben, arbeiten wieder reibungslos. Sie funktionieren. Wenn das so ist, dann ist das kein gänzlich neues Körpergefühl. Vielmehr gewinnen wir das natürliche zurück. Irgendwann vergisst man, dass es ein technisches Werk ist, das in unserem Körper arbeitet.

Dem Herzen entsprechen
Auf der Suche nach einem Maß, das im Menschen selbst liegt, sind wir auf das Herz gestoßen. Von ihm zu reden, heißt von dem zu reden, was einen Menschen im Innersten bewegt und von selbst am Leben hält. Im Herzen, so legt es unsere Erfahrung und unser Sprachgebrauch nahe, kommen Leib und Seele zusammen. Vom Herzen her wird der Körper durchblutet, im Herzen und mit dem Herzen erfahren wir uns ganz betroffen und auch ganz engagiert. Diese integrale Bedeutung des Herzens lässt sich freilich nicht eindeutig aussagen. Das Wort „Herz“ bleibt doppeldeutig, indem es beides bezeichnet: das körperliche Organ, dessen Funktionen wir mit den Mitteln der Naturwissenschaft erforschen und mit geeigneten Stoffen fördern können, und das Zentrum unserer Subjektivität, der Sitz unserer Gefühle und Affekte, unseres Lebenswillens und unseres Denkens. Dieser Doppeldeutigkeit entsprechen verschiedene Sprachspiele, gleichsam verschiedene Währungen, verschiedene Maße.

Um dem Menschen, der so verfasst ist, gerecht zu werden, bedarf es jener zweifachen Gerechtigkeit, von der unsere Überlegungen ausgegangen sind. Zu der Gerechtigkeit des Marktes kommt die Gerechtigkeit der Liebe. In der einen Hinsicht gilt es Gleiches gleich zu behandeln und alles, was messbar ist, einem einheitlichen Maß zu unterwerfen. In der anderen Hinsicht gilt es das je individuelle Maß zu achten, das jeder Mensch in sich trägt. Das eine anzuwenden, um dem anderen Raum zu lassen, das könnte eine Leitlinie medizinischer Ethik sein.

Ökonomie und Liebe sind dann sehr wohl zu unterscheiden, sie bleiben aber aufeinander bezogen. Und es gibt eine Regel, die sich in beiden Sphären anwenden lässt. Sie gilt auf dem Markt und in den persönlichen Beziehungen von Mensch zu Mensch. Es ist die sogenannte Goldene Regel, die in ihrer positiven Fassung lautet: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“ (Mt 7,12; Lutherübersetzung, revidierte Fassung von 1984). Oder in anderer Übersetzung (Zürcher Bibel, 2007) „Wie immer ihr wollt, dass die Leute mit euch umgehen, so geht auch mit ihnen um!“ Nach der Überlieferung ist eben diese Regel jedem Menschen ins Herz geschrieben. Sie ist das Gesetz der Freiheit.