Helfen kostensensible Leitlinien (KSLL) ÄrztInnen bei der Entscheidungsfindung

Auszug aus dem Vortrag von Priv.-Doz. Dr. med. Dr. rer. pol. Anja Neumann, Janine Biermann, M.A., Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen

Dr. rer. pol. Anja Neumann. E-Mail
Einleitung: Der Gesundheitsmarkt zeichnet sich durch viele Innovationen im Bereich der Biomedizin und Medizintechnik aus, die für die betroffenen Patienten vielversprechende Möglichkeiten in Diagnostik und Behandlung eröffnen. Gleichzeitig ist die Inanspruchnahme der neuen Technologien in vielen Fällen mit hohen zusätzlichen Kosten verbunden. In einer Situation begrenzter finanzieller Ressourcen im deutschen Gesundheitswesen führt diese Erhöhung der Ausgaben zu erheblichen Verteilungsproblemen (1). Insbesondere davon betroffen sind die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Dies führt zu einer Diskussion hinsichtlich einer mittelfristig notwendigen Einschränkung von Gesundheitsleistungen und insbesondere zum Thema Rationierung, das im Sinne der Vorenthaltung von Gesundheitsleistungen mit einem Zusatznutzen für den Patienten gesehen wird (1). Hierbei können zwei Formen unterschieden werden. Bei der expliziten Rationierung erfolgt die Allokationsentscheidung oberhalb der individuellen Arzt-Patient-Beziehung anhand transparent festgelegter Kriterien. Im Rahmen der impliziten Rationierung finden die Allokationsentscheidungen auf der Mikroebene statt und können somit zu einer potentiellen Belastung der Arzt-Patienten-Beziehung führen. Aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit sowie zur Entlastung des Arzt-Patient-Verhältnisses erscheint es sinnvoll, falls eine Rationierung im Gesundheitswesen unumgänglich wird, diese primär auf einer expliziten Ebene durchzuführen. Als potentielle Instrumente der expliziten Rationierung scheinen kostensensible Leitlinien (KSLL) einsetzbar, die evidenzbasiert, aufbauend auf medizinischen Leitlinien mit subgruppenspezifischen Kosteneffektivitätsdaten entwickelt und mittels derer Empfehlungen zur expliziten Rationierung vorgenommen werden können (2).

Methoden: Im Rahmen des vom BMBF geförderten interdisziplinären Verbundforschungsprojektes „Ethische, ökonomische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte der Allokation kostspieliger biomedizinischer Innovationen unter finanziellen Knappheitsbedingungen: Exemplarische Untersuchungen zur expliziten und impliziten Rationierung in der interventionellen Kardiologie und der Intensivmedizin“ war es das Ziel die Möglichkeiten und Grenzen kostensensibler Leitlinien als Instrument der expliziten Rationierung in ausgewählten Praxisbereichen zu untersuchen. Zu diesem Zweck sollten exemplarische Versorgungsstandards in Form von kostensensiblen Leitlinien (KSLL) entwickelt werden. In initial festgelegten Indikationen in den Fachgebieten der Kardiologie und Intensivmedizin wurde die empirische Evidenz zur Effektivität und Kosteneffektivität ausgewertet. Im Bereich der Kardiologie wurden die Untersuchungen zu Drug-eluting Stents (DES) bei der Behandlung der koronaren Herzkrankheit sowie zu implantierbaren Defibrillatoren (ICD) in der Behandlung kardialer Rhythmusstörungen bei chronischer Herzinsuffizienz vorgenommen. In der Intensivmedizin wurden Analysen zum aktivierten Faktor VII und aktivierten Protein C durchgeführt. Darüber hinaus erfolgten Recherchen zu thematisch einschlägigen Leitlinien und Versorgungsstandards. Es wurden Patientengruppen identifiziert, die einen unterschiedlich großen Nutzen von den jeweiligen medizinischen Maßnahmen haben. Des Weiteren wurde die Kosteneffektivität für die verschiedenen Subgruppen bestimmt und die Daten in eine medizinische Leitlinie eingearbeitet.

Ergebnisse: Evidenz für die medizinische Effektivität der oben genannten Technologien DES, ICD, aktivierter Faktor VII und aktiviertes Protein C konnte identifiziert und aufgearbeitet werden. Daten zur Kosteneffektivität der Technologien in den jeweiligen Indikationen waren nur in begrenztem Umfang vorhanden. Abgrenzbare Subgruppen, die abweichend von der klinischen Leitlinie eine Leistungsbegrenzung aufgrund der Kosteneffektivität begründbar machten, ließen sich lediglich für die Technologien DES und ICD ermitteln. Für diese beiden Technologien wurden exemplarische KSLL erstellt.

Diskussion: Die Erarbeitung von KSLL als Instrument der expliziten Leistungsbegrenzung ist - unter entsprechendem Zeit- und Ressourcenaufwand - möglich. Technisch besteht die Möglichkeit die Informationen zur Wirtschaftlichkeit der medizinischen Technologien in eine klinische Leitlinie zu ergänzen, so dass das Kriterium der Wirtschaftlichkeit mit in die Entscheidungsfindung des Arztes eingehen kann. Die Erstellung von KSLL erfordert jedoch eine ausreichende Verfügbarkeit von Daten zur Effektivität sowie zur Kosteneffektivität insbesondere zu spezifischen Subgruppen von Patienten. Aufgrund der Einführung transparenter, evidenzbasierter Kriterien in der Entscheidung zur Verteilung knapper Ressourcen bieten KSLL das Potenzial zur Entlastung der Arzt-Patient-Beziehung. Jedoch ist aufgrund der oben genannten methodischen Herausforderungen noch nicht absehbar, inwiefern dieses Instrument Eingang in die Versorgungspraxis finden kann.

Danksagung: Unser Dank gilt den weiteren beteiligten Wissenschaftlern des vom BMBF geförderten Verbundforschungsprojektes Daniela Freyer, Kirstin Börchers, Petra Schnell-Inderst, Stefan Huster, Daniel Strech, Swantje Reimann, Georg Marckmann.

Literatur
1. Marckmann G. Rationalisierung und Rationierung: Allokation im Gesundheitswesen zwischen Effizienz und Gerechtigkeit. In: Kick A, Taupitz J, Hrsg. Gesundheitswesen zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit. Münster: LIT; 2005:179-199.
2. Marckmann G, Strech D. Kostensensible Leitlinien als Priorisierungsinstrument. In: Diederich A, Koch C, Kray R et al, Hrsg. Priorisierte Medizin. Wiesbaden: Gabler; 2011:75-98
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