Buchbesprechung
Ah, ein Herz, verstehe
Das Schlimmste scheint überstanden. Und so kleidet der Schwabe Eduard Möricke, einer der bedeutendsten Dichter des Biedermeier und der Spätromantik, den Dank an seinen Arzt "Herrn Dr. Elsässer" in Worte voller Rührung:
"Siehe! Da stünd´ ich wieder auf meinen Füssen, und blicke
Froh und erstaunt in die Welt, die mir im Rücken schon lag!"
Den Arzt vergleicht Möricke mit dem Kapitän eines Schiffes, der dieses – allen Stürmen zum Trotz – sicher und ruhig ans rettende Ufer lenkt. Und dabei bescheiden bleibt:
"Laut umjauchzen sie ihn, aber er achtet es kaum,
Kettet das Schiff an den Pflock, und am Abend sitzt er beim Kruge
Wie ein anderer Mann, füllet sein Pfeifchen und ruht."
Ganz anders, weniger verklärend, jedoch augenzwinkernd klingt das Gedicht des jungen Arztes und Lyrikers Jakob Leiner. Erst 2024 dichtete er sein "Chirurgisches Triplett":
I
Eingestrichenes a
Bei Herz Sequenz siebzig
Sonnenaufgang
Über dem kapno- peritoneum
Unentwegt kämpfen hunds-
Körper frischauf bluten
nach der anastomose
keinen deut besser
II
Selbstverdauung passiert den besten
Klafft erweiterter oberbauchquerschnitt
Melancholische revision auch
Sickerblutungen vom feinsten
Rippenhebel bald angezogen
Festliche handsuche nach der milz
III
ursachenforschung bei dickem hals
den kragen aufschneiden
brillenbelupt
mit der zungenspitze
die lappenentknoten
einbeinig
stehend und bloß nicht
den wiedergänger nervtöten
dennoch
gilt ein räuspern dem kreislauf
fast verschluckt an einem
zuckerkandl
für die naht des platysmas
stimmung gelöst
Hier Möricke, dort Leiner. Was beide Poeten verbindet, ist ihr Blick auf die Medizin, wenngleich der sprachliche Ausdruck gegensätzlicher nicht sein könnte. Und doch entstammen beide Gedichte dem Buch "Ah, ein Herz, verstehe. Gedichte von Heilenden und Kranken aus 500 Jahren". Das Kompendium der Werke von 101 Dichterinnen und Dichtern spannt einen zeitlichen Bogen vom Beginn der Neuzeit bis heute. Große Dichternamen sind dabei: Teresa von Avila ebenso wie Philipp Melanchton, Shakespeare, Goethe und Schiller oder Hölderlin, nicht zu vergessen Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler, Erich Kästner, natürlich Bertold Brecht, Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Es ist ein lyrischer Ritt durch die Jahrhunderte, grenzenlos und frei. Da wird, wie es im Klappentext zu Recht heißt, "barock lamentiert, romantisch verklärt und anatomisch beobachtet". Und auch der Humor bleibt nicht auf der Strecke – wie etwa in Eugen Roths Poem "Der rechte Arzt":
Fehlt dirs an Leber, Lunge, Magen,
Musst du es den Bekannten sagen
Damit sie dir die Heilung gönnen
Dir einen Arzt verraten können (…).
Drum willst du sinken nicht ins Grab,
Dann lass von deinem Doktor ab,
Und lasse nur noch einen holen
Der von Bekannten dir empfohlen
Wie du nur dann – wenn doch du stirbst –
Ein Recht auf Mitleid dir erwirbst
Sonst sagen sie nur tief empört
Er hat ja nie auf uns gehört!
Herausgeber des im Quintus-Verlag erschienenen Buches ist der junge Freiburger Arzt und Schriftsteller Jakob Leiner. Seine Sammlung poetischer Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten tastet die Schnittstelle von Poesie und Medizin, von Krankheit und Heilung ab. Immer schon gehörte zum Heilen: das Wort, die Pflanze, das Messer. Angesichts unserer heutigen, hochspezifizierten Medizin – pharmakologisch wie technisch – möchte Leiner seine Anthologie auch als Plädoyer verstanden wissen – für eine sprechende Medizin der Zukunft. Denn hinter dem Wort komme das Menschliche zum Tragen, sei Sprache ein Kurort.
Leiners Gedichtsammlung funktioniert aber auch als Spiegel gesellschaftlicher Umwälzungen, ausgelöst etwa durch Pandemien oder Kriege. Und sie lässt sich als Revue der Medizingeschichte lesen. Das meistunterschätzte Heilmittel, diese These belegt Leiner unschwer, ist das der lyrischen Sprache. Sie stillt Neugier, weckt Lebensmut und trägt so zur Herzensbildung bei. Schon deshalb sollte "Ah, mein Herz, verstehe" in keinem Arztzimmer fehlen.
Jakob Leiner (Hg.): „Ah, ein Herz, verstehe. Gedichte von Heilenden und Kranken aus 500 Jahren“, Quintus Verlag, ISBN: 978-3-96982-102-2.
E-Mail: maria.linsmann@posteo.de
"Siehe! Da stünd´ ich wieder auf meinen Füssen, und blicke
Froh und erstaunt in die Welt, die mir im Rücken schon lag!"
Den Arzt vergleicht Möricke mit dem Kapitän eines Schiffes, der dieses – allen Stürmen zum Trotz – sicher und ruhig ans rettende Ufer lenkt. Und dabei bescheiden bleibt:
"Laut umjauchzen sie ihn, aber er achtet es kaum,
Kettet das Schiff an den Pflock, und am Abend sitzt er beim Kruge
Wie ein anderer Mann, füllet sein Pfeifchen und ruht."
Ganz anders, weniger verklärend, jedoch augenzwinkernd klingt das Gedicht des jungen Arztes und Lyrikers Jakob Leiner. Erst 2024 dichtete er sein "Chirurgisches Triplett":
I
Eingestrichenes a
Bei Herz Sequenz siebzig
Sonnenaufgang
Über dem kapno- peritoneum
Unentwegt kämpfen hunds-
Körper frischauf bluten
nach der anastomose
keinen deut besser
II
Selbstverdauung passiert den besten
Klafft erweiterter oberbauchquerschnitt
Melancholische revision auch
Sickerblutungen vom feinsten
Rippenhebel bald angezogen
Festliche handsuche nach der milz
III
ursachenforschung bei dickem hals
den kragen aufschneiden
brillenbelupt
mit der zungenspitze
die lappenentknoten
einbeinig
stehend und bloß nicht
den wiedergänger nervtöten
dennoch
gilt ein räuspern dem kreislauf
fast verschluckt an einem
zuckerkandl
für die naht des platysmas
stimmung gelöst
Hier Möricke, dort Leiner. Was beide Poeten verbindet, ist ihr Blick auf die Medizin, wenngleich der sprachliche Ausdruck gegensätzlicher nicht sein könnte. Und doch entstammen beide Gedichte dem Buch "Ah, ein Herz, verstehe. Gedichte von Heilenden und Kranken aus 500 Jahren". Das Kompendium der Werke von 101 Dichterinnen und Dichtern spannt einen zeitlichen Bogen vom Beginn der Neuzeit bis heute. Große Dichternamen sind dabei: Teresa von Avila ebenso wie Philipp Melanchton, Shakespeare, Goethe und Schiller oder Hölderlin, nicht zu vergessen Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler, Erich Kästner, natürlich Bertold Brecht, Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Es ist ein lyrischer Ritt durch die Jahrhunderte, grenzenlos und frei. Da wird, wie es im Klappentext zu Recht heißt, "barock lamentiert, romantisch verklärt und anatomisch beobachtet". Und auch der Humor bleibt nicht auf der Strecke – wie etwa in Eugen Roths Poem "Der rechte Arzt":
Fehlt dirs an Leber, Lunge, Magen,
Musst du es den Bekannten sagen
Damit sie dir die Heilung gönnen
Dir einen Arzt verraten können (…).
Drum willst du sinken nicht ins Grab,
Dann lass von deinem Doktor ab,
Und lasse nur noch einen holen
Der von Bekannten dir empfohlen
Wie du nur dann – wenn doch du stirbst –
Ein Recht auf Mitleid dir erwirbst
Sonst sagen sie nur tief empört
Er hat ja nie auf uns gehört!
Herausgeber des im Quintus-Verlag erschienenen Buches ist der junge Freiburger Arzt und Schriftsteller Jakob Leiner. Seine Sammlung poetischer Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten tastet die Schnittstelle von Poesie und Medizin, von Krankheit und Heilung ab. Immer schon gehörte zum Heilen: das Wort, die Pflanze, das Messer. Angesichts unserer heutigen, hochspezifizierten Medizin – pharmakologisch wie technisch – möchte Leiner seine Anthologie auch als Plädoyer verstanden wissen – für eine sprechende Medizin der Zukunft. Denn hinter dem Wort komme das Menschliche zum Tragen, sei Sprache ein Kurort.
Leiners Gedichtsammlung funktioniert aber auch als Spiegel gesellschaftlicher Umwälzungen, ausgelöst etwa durch Pandemien oder Kriege. Und sie lässt sich als Revue der Medizingeschichte lesen. Das meistunterschätzte Heilmittel, diese These belegt Leiner unschwer, ist das der lyrischen Sprache. Sie stillt Neugier, weckt Lebensmut und trägt so zur Herzensbildung bei. Schon deshalb sollte "Ah, mein Herz, verstehe" in keinem Arztzimmer fehlen.
Jakob Leiner (Hg.): „Ah, ein Herz, verstehe. Gedichte von Heilenden und Kranken aus 500 Jahren“, Quintus Verlag, ISBN: 978-3-96982-102-2.
E-Mail: maria.linsmann@posteo.de