Editorial

Liebe Kolleginnen, liebe Mitglieder des Deutschen Ärztinnenbundes,

lassen Sie mich heute, in meinem letzten Editorial, das ich als Präsidentin des Ärztinnenbundes schreibe und welches etwas länger wird als gewohnt, einen Blick zurückwerfen auf die letzten zehn Jahre. Ein Jahrzehnt, in dem ich diesen wunderbaren Verband als Präsidentin führen durfte.

Im Jahr 2013 überraschte mich auf dem Deutschen Ärztetag die Frage der damaligen Präsidentin, ob ich mich zur Wahl als Vizepräsidentin stellen wolle. Damals hatte ich schon 15 Jahre Kammeraktivität hinter mir. Währenddessen hatte ich – tatsächlich inner­lich widerstrebend, weil ich der Meinung gewesen war, in einer Zeit angekommen zu sein, in der Frauen und Männer gleichberechtigt sind – erkannt, dass Frauen nicht so vorankamen, wie sie es eigentlich verdient hätten. Bestimmte Ämter waren immer schon vergeben an „verdiente“ Menschen. Dass dies immer Männer waren, fiel diesen wohl selbst nicht auf. Wir Frauen hatten begonnen, uns zu treffen. Unsere Treffen waren „Kaffeekränzchen“ aus Sicht der Männer und dort „verschworen“ wir uns. Ich sah, dass nur gegenseitige Unterstützung hilft, und lernte, bei Wahlen nur die Frauennamen aus der Liste zu wählen und uns untereinander das Wort zu geben. Das war die Verschwörung!

Frauen konnten bereits damals gerne mitarbeiten – aber bitte nur in aus Männersicht unwichtigen Ausschüssen wie z. B. Ärztinnen, Ärztegesundheit oder auch in den Psych-Fächern. Wichtige Ausschüsse wie Weiterbildung, Fortbildung, Berufsordnung, Ethik etc. hatten hauptsächlich (alte und ältere) Männer als Mitglieder und im Vorsitz.

Heute sehe ich – auch wenn sich schon vieles gewandelt hat und Frauen deutlich mehr in der Kammer­arbeit vertreten sind – immer noch Elemente der fehlenden Gleichberechtigung oder auch der Diskri­minierung. Immer noch sind die Spitzen, egal ob Kammern, K(Z)Ven, Verbände, Fachgesellschaften, Klinikleitungen, Lehrstühle, hauptsächlich männlich besetzt. Lediglich in den stellvertretenden Positionen sind mittlerweile deutlich mehr Frauen angekommen.

Ärztinnen sind unverkennbar gleichberechtigter geworden, doch fehlt immer noch entsprechende Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Familie und ärztlichem Beruf. Mütter, und hier auch Ärztinnen, fühlen sich immer noch mehr als die Väter der Kinderbetreuung verpflichtet. Es fehlen ausreichende Bemühungen, schwangeren Ärztinnen die Weiterarbeit zu ermöglichen oder ihre Weiterbildungszeit zu gestalten. Anschließend fehlt es an entsprechender Kinderbetreuung im Klinik­umfeld. Schleppende Umsetzung für eine alternative Arbeitsplatzgestaltung und oft der fehlende Blick auf das entsprechende Umfeld und auf das, was sogar manchmal einfach zu ändern wäre, sind immer noch an der Tagesordnung.

Manchmal werden die Grenzen der Diskriminierung überschritten, sogar tief verletzt. Grenzverletzungen geschehen durch Entwertung, durch Mobbing, durch Sexismus, durch Blicke, Worte und Taten. Auch wenn es im realen Leben auch Männer treffen kann, sind die Opfer doch meistens Frauen, in unserem Fall Ärztinnen und Zahnärztinnen. Im Jahr 2013, zu Beginn der weltweiten #MeToo-Bewegung, hat sich der DÄB sofort für Hilfe eingesetzt. Im Vorstand haben wir damals beschlossen, für betroffene Kolleginnen eine Ansprechstelle anzubieten. Unser Flyer ist immer noch aktuell, weil wir auf die Definition von Übergriffigkeit und auf Ansprechstellen hinweisen.

Die #MeToo-Debatte hat zwar einiges verändert, geht aber nicht weit genug. Das Öffentlichmachen von Übergriffen ist die eine Seite, der immer noch stattfindende Machtmissbrauch ist die andere Seite. Wie auf unserem Titelbild ist der Schatten des Geschehens sichtbar – wir müssen es nur sehen wollen. Wir müssen es verstehen und handeln! Oft verändert sich das Verhalten der Opfer. Sie ziehen sich zurück, bis sie nur noch ein Schatten ihrer selbst sind. Das Geschehen ist oft transparent, man muss nur willig sein, es wahrzunehmen. Patriarchale Strukturen und männliche Denkweisen, der immer noch fehlende weibliche Blick und sogar oftmals die fehlende Sensibilität für diese Grenzüberschreitungen halten das System aufrecht.

Im vergangenen Jahr konnten wir den 100. Gründungstag des Vorgängerverbandes „Bund Deutscher Ärztinnen“ feiern: 100 Jahre, in denen viele Frauen sich um Veränderungen bemüht haben. 100 Jahre, in denen aktive Ärztinnen und Zahnärztinnen vieles verändert haben. 100 Jahre im Kampf um Gleichberechtigung.

100 Jahre – und immer noch notwendig! So sehe ich den Deutschen Ärztinnenbund.

Immer wieder finden wir wichtige Themen, um die Gleichberechtigung von Ärztinnen und Ärzten, Frauen und Männern sowie anderen Geschlechtern voranzubringen: Seien es, wie in den vergangenen Jahrzehnten, die Forderungen zur Vereinbarkeit von Privatleben und ärztlichem Beruf, seien es die Bestrebungen zur fachübergreifenden Umsetzung und Berücksichtigung der geschlechtersensiblen Medizin, seien es die Aktivitäten gegen die Benachteiligung schwangerer Ärztinnen oder sei es der Kampf gegen Diskriminierung allgemein. All das sind Themen, die inzwischen gesamtgesellschaftlich erkannt und aufgenommen wurden. Es scheint also so, als hätten wir schon viel erreicht. Haben wir auch, aber werden wir es erhalten? Leider können wir uns nicht zurücklehnen und hoffen, dass es so weiter geht – positiv im Sinne von
uns Frauen.

Aktuell sind wir in einer Situation, in der sogar mehr über Frauengesundheit gesprochen wird. In Politik und Gesellschaft wird diskutiert über Brustkrebs, Endometriose, Menstruationsbeschwerden, Schwangerschaft, Fehlgeburt oder auch Menopause. Alles ist wichtig, und doch ist darin eine Gefahr zu erkennen. Was geschieht, wenn unter dem Deckmantel „wir kümmern uns um die Frauenmedizin“ eine Reduktion von uns Frauen erfolgt auf die Funktionen unserer biologischen Geschlechtsorgane? Die Gefahr ist real. Das ist nicht nur Manipulation. Es wäre Diskriminierung unter dem Mantel der Fürsorge. Lassen Sie uns also aufpassen!

Da dies mein letztes Editorial als Präsidentin des DÄB ist, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um mich zu bedanken: bei den Aktiven des Verbandes, für die fruchtbaren Diskussionen und das Einbringen von neuen Ideen, für die Unterstützungen und Motivationen, die ich in den vergangenen zehn Jahren als Präsidentin habe erfahren dürfen. Ich möchte mich bedanken bei allen Mitarbeiterinnen der Geschäftsstelle, allen voran natürlich Martina Baddack und Stephanie Tahden, ohne die ich mein ehrenamtliches Engagement nie hätte durchziehen können. Die reibungslose Zusammenarbeit mit unseren Pressereferentinnen habe ich immer als sehr gelungen empfunden und bedanke mich dafür bei Gundel Köbke, Alexandra von Knobloch und Anne Wewer. Dank auch an die Verlässlichen im Hintergrund, an André Zentzis, den Korrektor der ärztin, Jürgen Rödiger als Ansprechpartner für die IT, insbesondere aber Anne-Claire Martin, der ich eine Idee zurufen kann und eine entsprechende Graphik bekomme, und Dirk Schmidtke, der die DÄB-Homepage betreut und uns durch die für uns neuen Wogen der Digitalisierung bei unserer ersten hybriden außerordentlichen Mitgliederversammlung gesteuert hat.

Mein besonderer Dank gilt all denen, die ehrenamtlich Verantwortung für Regionalgruppen, Foren und Ausschüsse übernommen haben, sowie denen, die den Vorstand im Hintergrund unterstützt haben. Und natürlich möchte ich mich bedanken bei „meinen“ Vizepräsidentinnen – Gaby Kaczmarczyk, Barbara Puhahn-Schmeiser, Eva Hennel und Jana Pannenbäcker – für die kooperative Übernahme von Themen, für ihre Verlässlichkeit. Dank auch den ehemaligen und aktuellen Vorstandsmitgliedern – Gudrun Günther, Tanja Kobuß, Angelika Brandl-Riedel, Heike Raestrup, Jana Aulenkamp und Renate Böhm – für die Gewissheit, in einem Team arbeiten zu können. Diese Teamarbeit hat mich getragen in all den Jahren. Mein Dank geht aber auch an all die stillen Mitglieder, denn auch sie haben mir – jede für sich durch ihre Mitgliedschaft – bei Diskussionen und Forderungen zu den Themen des Ärztinnenbundes den Rücken gestärkt.

Dem neuen Vorstand wünsche ich schon an dieser Stelle, dass er ebenfalls im Teamgedanken den Deutschen Ärztinnenbund weitertragen, Themen der Ärztinnen, Zahnärztinnen und Frauen sehen, aufnehmen und bearbeiten kann. Dies alles mit glücklicher Hand und guter Kooperation, aber auch mit Freude an jeder noch so kleinen Verbesserung.

Mit ganz herzlichen Grüßen

Ihre

Dr. med. Christiane Groß, M.A.,
Präsidentin des DÄB