Geschlechtersensible Medizin: Ein theoretisches Fach in die Praxis bringen

Liebe Frau Prof. Dr. Seeland, im März 2024 wurden Sie an die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg berufen. Ihre Stiftungsprofessur ist die erste Vollzeitprofessur für Geschlechtersensible Medizin mit Klinikanbindung in Deutschland. Geschlechtersensible Medizin – was genau bedeutet das?

Die Erkenntnis, dass Frauen und Männer „anders“ krank sind, hat ihren Weg inzwischen in die Köpfe vieler Menschen gefunden. Doch wie unterscheiden sich die Symptome von Krankheiten zwischen den Geschlechtern konkret? Und was bedeutet das für Prävention, Diagnostik und Therapie? Wie muss Forschung gestaltet sein, die diese Geschlechterunterschiede adäquat berücksichtigt? Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns in der Geschlechtersensiblen Medizin (GSM). Wobei ich gerne von der Geschlechtersensiblen Medizin unter Berücksichtigung weiterer Diversitätsfaktoren – kurz GSM+ – spreche.

Dabei betrachten wir Gesundheit/Krankheit als komplexes Bild. Wir erforschen zum einen geschlechterspezifische biologische Unterschiede von Organen und Organsystemen. Zum anderen binden wir soziokulturelle Faktoren in unsere Forschung ein. Das erfordert neue Denkansätze und Methoden für die Forschung. In unsere Fragestellungen nehmen wir daher u. a. Themen wie soziale Bindung in Familie und Gesellschaft, Bildung, Religion, Geschlechtsidentität, Einkommen sowie körperliche und psychische Unversehrtheit auf.

Liegt der Fokus der GSM damit ausschließlich auf Frauen?


Keineswegs! GSM ist keine Frauenmedizin, sondern betrachtet explizit die Geschlechterunterschiede. Forschungsergebnisse zeigen, dass Männer und Frauen unterschiedlich auf Krankheiten reagieren. Einflussfaktoren wirken mit unterschiedlicher Effektstärke auf die Erhaltung der Gesundheit von Frauen und Männern ein. Diese Unterschiede zu kennen und zu berücksichtigen ist wichtig, um wirkungsvoll Prävention und Therapie planen zu können. Davon profitiert auch das männliche Geschlecht.

Welche Einflussfaktoren können das sein?


Wichtig ist hier z. B. der Einflussfaktor „Alter“. Dabei geht es uns nicht um das chronologische, sondern um das biologische Alter. Bestimmen kann man das u. a. über die arterielle Gefäßelastizität, die wir in unserer Hochschulambulanz oszillometrisch bestimmen können. Im Kontext „Alter“ ist es gar nicht so einfach, natürliche Alterungsprozesse der Gefäße und Organe von pathologischen zu unterscheiden. Wen sollen wir wann therapieren? Eine Frage, die insbesondere für Frauen in der Perimenopause nicht geklärt ist.

Inwiefern ist diese Phase besonders relevant?


Wir berücksichtigen in der Forschung vier Zustände beim
weiblichen Geschlecht: prä-, peri-, postmenopausal und schwangere Frauen. Die Perimenopause ist die vulnerable Zeit, in der insbesondere funktionelle Störungen der Organsysteme beobachtet werden, wie z. B. plötzliche Tachykardien, schwankende Blutdruckwerte, Angina-pectoris-Symptomatik, gastrointestinale Symptome, Stimmungsschwankungen, Hitzewallungen, wechselnde Sehstärken u. v. m. Wir müssen erst einmal verstehen, wie diese Phänomene im Zusammenhang stehen mit den wechselnden Konzentrationen der Sexualhormone und deren zentralen Regelsystemen.

Frauen beschreiben diese Symptome teilweise schon in einem Alter ab 42 Jahren. Bis zum Eintritt der letzten Regelblutung mit im Durchschnitt 52 Jahren bleiben für diese Frauen noch etwa zehn Jahre. Eine Zeit mit oftmals stark eingeschränkter Lebensqualität. Eine adäquate medizinische Antwort für diese Lebensphase von Frauen zu finden, ist nicht allein Aufgabe der Gynäkologie. Aus dieser Überzeugung heraus habe ich Lernziele und -inhalte zur postreproduktiven Phase des weiblichen Geschlechts in die Lehre in Magdeburg aufgenommen – und das Feedback der Studierenden ist sehr positiv.

Natürlich haben wir nicht nur das weibliche Geschlecht im Fokus. Bei männlichen Jugendlichen ist z. B. die Adoleszenz eine sehr vulnerable Phase, die in den medizinischen Fokus genommen werden sollte, um spezielle Präventionsangebote zu entwickeln. Auch hier hoffen wir, Fortschritte zu erzielen. Helfen soll uns die Messung der Körperzusammensetzung, um eine gezielte Beratung zu Ernährung und Bewegung leisten zu können.

Sie haben es angedeutet: Seit Januar leiten Sie die deutschlandweit erste Hochschulambulanz für Geschlechtersensible Medizin und Prävention in Magdeburg. Was genau ist das?

Zunächst möchte ich sagen, dass ich gar nicht beschreiben kann, wie sehr ich mich über unsere Hochschulambulanz für Geschlechtersensible Medizin und Prävention freue. Wir bringen damit ein bisher theoretisches Fach konsequent in die Praxis – ein absoluter Meilenstein in der GSM. Und das ist gar nicht so leicht, denn wir sprechen hier von einem sehr
breiten Fach, bei dem interdisziplinäre Betrachtung unentbehrlich ist. Denn in so gut wie jeder medizinischen Disziplin gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen.

Wir sind mit unserer Hochschulambulanz gerade in der Pilotphase und vervollständi­gen nach und nach unser Angebot. Einen besonderen Schwerpunkt setzen wir, wie angedeutet, auf die Bestimmung des biologischen Alters, genauer gesagt auf die Diagnostik der arteriellen Gefäßsteifigkeit und auf die Auswirkung vorzeitiger Gefäßalterung auf die Organsysteme. Wir wenden Ultraschalltechniken an von der Messung der Intima-Media-Dicke über die Aorta zu den Beinarterien so-
wie die Echokardiographie. Die Laborwertbestimmungen beziehen sich auch auf den Hormonstatus – eine Untersuchung, die häufig nicht angeboten wird. Die Daten fließen ein in unsere Projekte zu Forschungsfragen, die etwas mit dem weiblichen Zyklus zu tun haben. Zyklusforschung im Zusammenhang mit Regelsystemen und Organfunktionen sind bisher stark vernachlässigt worden.

An wen richtet sich das Angebot?


Das Angebot unserer Hochschulambulanz für Geschlechtersensible Medizin und Prävention richtet sich sowohl an ärztliche Kolleginnen und Kollegen als auch an Patientinnen und Patienten. Es geht mir darum, meine Erfahrungen als Klinikärztin auf internistischen Stationen ebenso einzubringen wie meine theoretisch-wissenschaftliche Expertise zu Geschlechterunterschieden in Prävention und Therapie.

Patientenseitig haben wir vor allem Anfragen von Menschen, die sich in ihrer bisherigen Versorgungshistorie nicht umfassend betrachtet gefühlt haben; denen bei ihrer Behandlung „etwas fehlte“, das sie oftmals nicht beschreiben können. Ein Beispiel sind Frauen in der Menopause. Die hormonellen Veränderungen in der Menopause haben Auswirkungen auf den gesamten weiblichen Körper. Kennt sich ein Medi­ziner, eine Medizinerin nicht sehr gut mit den Zusammenhängen aus, kann es sein, dass einzelne Symptome fehlinterpretiert und falsch behandelt werden, ohne dass es der Frau besser geht.

Zudem ist es unser Ziel, über die Hochschulambulanz viele Ärztinnen und Ärzte für einen ganzheitlichen Blick auf die Menschen zu sensibilisieren und darin ausbilden zu können. Ein Schwerpunktthema ist z. B. die Pharmakodynamik von Arzneistoffen, also die Medikation und die damit einhergehenden erwünschten, aber auch unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Historisch gesehen ist das weibliche Geschlecht gerade in pharmakologischen Studien oftmals zu wenig berücksichtigt, z. B. in der kardiovaskulären Medizin: Forschung wurde überwiegend an Männern vorgenommen.

Das führt dazu, dass entsprechende Medikamente bei Frauen anders wirken können und die Einnahme vermehrt mit unerwünschten Wirkungen verbunden ist. Solange bei der Pharmaindustrie kein Umdenken in Richtung geschlechtersensible Arzneimittelentwicklung entsteht, müssen wir Klinikerinnen und Kliniker Strategien für sinnvolle Dosisanpassungen entwickeln.

Wir verschaffen uns in unserer Hochschulambulanz z. B. über die sogenannte Body Composition einen genaueren Blick auf den Körper. Wir können darüber die Zusammensetzung von Fettgehalt, Muskelmasse und Wasseranteil im Körper eines Patienten oder einer Patientin bestimmen. Und das ist essenziell wichtig. Gerade der Wassergehalt unterscheidet sich bei Frauen stark – je nach Lebensphase.

Als Ärztin und Arzt muss man das wissen. Und man muss
sich mit dem Einfluss der Sexualhormone auf Aufnahme und Verstoffwechslung von Medikamenten auskennen, um diese dann differenziert einsetzen und dosieren zu können.

Schwerpunktthema dieser „ärztin“ ist die Digitalisierung. Daher möchte ich die Gelegenheit nutzen, Sie auch nach diesem Thema zu fragen: Nutzen Sie digitale Anwendungen in Ihrer Ambulanz? Wie stehen Sie zu KI und Co.?

In unserer Hochschulambulanz nutzen wir digitale Anwendungen, wo immer wir können – gerade in der Dokumentation. Ich möchte so viel Zeit wie möglich für die Patientinnen und Patienten haben und so wenig Zeit wie möglich mit der Dokumentation verbringen. Dabei hilft uns die Digitalisierung sehr. Das ist Handarbeit und erfordert eine enge Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten aus Informatik und Mathematik.

Andere Themen wie z. B. die KI sehe ich dagegen eher kritisch in der Disziplin der GSM. Es ist ein großes Problem, dass frühere Studien – egal ob in der Arzneimittelforschung oder in anderen Bereichen – Frauen oftmals ausgeschlossen haben oder aber die Auswertung der Daten nicht getrennt nach Geschlechtern erfolgte. Werden die heutigen Algorithmen mit den alten, viel zu allgemeinen Daten gefüttert und trainiert, bekommen wir gerade in der GSM ein großes Problem und werden um Jahrzehnte zurückgeworfen. Das Thema müssen wir alle immer wieder ins Gespräch bringen.

Interview: Anne Wewer

Univ.-Prof. Dr. med. Ute Seeland ist berufene W3-Professorin auf den Lehrstuhl für Innere Medizin/Geschlechtersensible Medizin der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg. Gefördert wird die Professur von der Margarete-Ammon-Stiftung. Sie ist Fachärztin für Innere Medizin und hat die Lehrbefähigung für Innere Medizin/Geschlechtersensible Medizin an der Charité – Universitätsmedizin Berlin erworben. Prof. Dr. Seeland ist Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e. V. (DGesGM®) und im erweiterten Vorstand der International Society for Gender Medicine (IGM). Sie ist DÄB-Mitglied.

E-Mail: ute.seeland@med.ovgu.de
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