Grenzverletzungen und Machtmissbrauch
Übergriffe im Gesundheitswesen, die stille Gefahr
Dieser Beitrag beleuchtet Grenzverletzungen und Machtmissbrauch mit Blick auf das Gesundheitswesen. Auch wenn grundsätzlich alle Berufsgruppen und Berufszweige gleichermaßen betroffen sein können, sind Beteiligte aller Parteien im Gesundheitswesen wegen verschwimmender Grenzen zwischen Beruf und Privatleben zusätzlich gefährdet.
Grenzverletzungen stellen eine tiefgreifende Verletzung persönlicher Integrität für Menschen aller Altersgruppen, aller Geschlechter, aller Ethnien, aller Berufe dar. Sie gehen häufig Hand in Hand mit Machtmissbrauch. Ein vorhandenes Machtgefälle – im Gesundheitswesen oft durch gelebte patriarchale Strukturen – bereitet den Grenzverletzungen fruchtbaren Boden. Manchmal geschehen sie auch unwissentlich oder aus Leichtsinnigkeit. Grenzverletzungen können durch Blicke, Worte und Taten ausgelöst werden. Sie reichen von Diskriminierungen, Entwertungen, Lächerlichmachen, Sexismus oder Beschämung bis hin zu Mobbing, Gewalt, Erpressung, sexuellen Überriffen und sexualisierter Gewalt. Frauen sind bei sexuellen Übergriffen und Diskriminierung häufiger betroffen, Außenseiter und ältere Kolleginnen und Kollegen sind häufiger Opfer von Mobbing.
{{IMG=1905}}Sexualisierte Gewalt umfasst alle sexuellen Handlungen, die gegen den Willen einer Person vorgenommen werden oder bei denen aufgrund von Machtverhältnissen keine Zustimmung möglich ist. Zur Definition – beginnend bei sexistischen Kommentaren, ehrverletzenden Bemerkungen, aufdringlichen Fragen, obszönen Witzen, schlüpfrigen SMS, Mails oder Posts, eindeutigen Angeboten, Begrapschen, Betasten bis hin zu Nötigung und Gewalt – verweise ich auf den Flyer des DÄB.
Im Gesundheitswesen kommt hinzu, dass die Grenzen zwischen Privatem und Beruflichem stärker verschwimmen als in anderen Berufen:
Patientinnen und Patienten als Opfer und als Täter
Entblößte Körperstellen können vereinzelt be- oder entwertende Fantasien anregen. Das Verbalisieren dieser Fantasien oder auch inadäquates Anfassen sind als Übergriffe zu werten. Da die Patientinnen und Patienten narkotisiert und machtlos sind, verschwimmt hier eine weitere Grenze: Hemmungen fallen. Auch anwesende Mitarbeitende können betroffen sein, weil sie Scham empfinden, wenn sie zuschauen/-hören, wie mit dem Opfer umgegangen wird. Bei entsprechenden Bemerkungen gilt man als Spaßbremse, uncool oder gar unmännlich. Oder man schweigt aus Angst, bei Protest an an-derer Stelle benachteiligt zu werden. Grundlage ist Machtmissbrauch.
Während Patientinnen und Patienten, die Übergriffe bei vollem Bewusstsein erleben, selbst tätig werden können, sind bei narkotisierten Menschen alle Anwesenden gefordert. Angezeigte Grenzverletzungen müssen berufsrechtlich geprüft werden und können ggf. bis zum Entzug der Approbation führen. Diese Fälle, insbesondere bei sexuellen Grenzverletzungen, müssen grundsätzlich an die Berufsgerichte weitergeleitet werden, zum Schutz vor Schädigung des ärztlichen Berufes und zum Schutz der Patientinnen und Patienten vor Folgefällen.
Auch seitens der Patientinnen und Patienten können gegenüber dem behandelnden Personal Grenzen verschwimmen. Kleidung bietet keinen Schutz mehr. Nähe durch körperliche Untersuchungen kann falsch interpretiert werden. Auf Fehldeutungen von Zuwendung und Empathie kann forderndes oder sexualisiertes Verhalten folgen. Handelt es sich um Patientinnen und Patienten bei klarem Bewusstsein und nicht um einen Notfall, kann die (Weiter-)Behandlung verweigert werden. Handelt es sich um nicht zurechnungsfähige Personen, ist darauf zu achten, dass eine weitere Behandlung nur mit entsprechenden Schutzmaßnahmen (zweite Person, offene Zimmertüren etc.) erfolgt. Der Schutz des Personals muss immer an erster Stelle stehen – vor jeder ökonomischen Überlegung.
Machtmissbrauch bei Mitarbeitenden
Berichte von Gewalt durch Patientinnen und Patienten in Praxen und Kliniken nehmen zu. Berichte über Gewalt und Missbrauchserfahrungen innerhalb der Kollegenschaft sind selten zu lesen. Warum ist das so? Warum wurde ich auf dem Deutschen Ärztetag 2018 als Mitantragstellerin für einen Antrag zur Vorsorge gegen sexuelle Übertritte innerhalb der Ärzteschaft mit den Worten „Ziehen Sie den Antrag zurück! Das gibt es doch bei uns nicht“ angegangen? Der Antrag wurde schließlich mit Nichtbefassung belegt. 2019 wurde ein ähnlicher Antrag dann an den Vorstand überwiesen. Offiziell ist das Problem kein Thema der Bundesärztekammer geworden, aber einige Ärztekammern haben es ernst genommen und Ansprechstellen geschaffen (u. a. die Ärztekammern Nordrhein, Niedersachsen, Hessen und Westfalen-Lippe).
Als langjährige Ansprechpartnerin des DÄB sowie im Hintergrund einer solchen Kontaktstelle der Ärztekammer Nordrhein habe ich Gespräche mit Betroffenen geführt. Eine Gemeinsamkeit haben alle: Keine der Kolleginnen hat Anzeige erstattet, auch wenn einige – letztendlich frustran – Kontakt zur Personalvertretung aufgenommen haben. Das Phänomen da- hinter heißt Abhängigkeit und wird durch patriarchalische Strukturen, wie sie gerade in den Hierarchieebenen im Gesundheitswesen und an Universitäten noch häufig sind, begünstigt.
In Kliniken kann Abhängigkeit schon bei der Dienstplanung beginnen, geht weiter bei der Einteilung zu Stationen, OPs und Interventionen und gipfelt in der Wissenschaft bei der Zu- oder Absage von Unterstützung, Bewertung, Beurteilung, beim Kontaktaufbau zu Netzwerken. All diese Abhängigkeiten können genutzt werden für kleine Erpressungen bis hin zu Machtmissbrauch durch Mobbing oder gar sexuelle Übergriffe.
Sexuelle Übergriffe erleben meist jüngere Frauen durch (ältere) Kollegen aus höheren Hierarchieebenen. Manchmal beginnt alles mit einer Romanze, einer Affäre. Am Ende stehen Ängste, sich selbst zu schädigen, die Karriere zu behindern, die Weiterbildung nicht schnell genug zu absolvieren. Diese Ängste lassen Betroffene stillhalten. Scham steht dem Offenlegen häufig im Weg, ausgelöst durch Fragen: „Wie kann mir so etwas passieren? Was habe ich falsch gemacht?“
Interessanterweise kennen die betroffenen Frauen oft auch „Vorgängerinnen“, denen es ähnlich erging. Sie wissen, welche Maßnahmen bei Verweigerung folgen können. Sie haben massive Entwertungen und heftiges Mobbing der Betroffenen mitbekommen. Sie haben erlebt, wie die Stimmung in der Kollegenschaft kippen kann. Sie kennen Kolleginnen, die gehen mussten, denen gekündigt wurde. Sie kennen Kolleginnen, die gegangen sind, weil sie es nicht mehr aushielten. Sie kennen Kolleginnen, die still ausgehalten haben, bis der nächste Karriereschritt erreicht war. Sie haben erlebt, wie sich deren Persönlichkeit dabei verändert hat.
Für mich kristallisierten sich zwei Fragen heraus:
Zu Frage 2: Auch wenn es Menschen im Täterumfeld gibt, die sich eine solche Tat nicht vorstellen können, die gutgläubig oder nicht nah genug am Täter sind, gibt es andere, die Gerüchte gehört haben, von Vorfällen wissen oder zumindest die Anzeichen dafür deuten könnten. Dass diese Menschen bei Übergriffen nicht reagieren, ist ebenfalls mit Selbstschutz zu erklären. Auch hier kann Machtmissbrauch der Grund sein, indem sich der Täter auf die Abhängigkeit der anderen verlässt: gemeinsame wissenschaftliche Arbeit, langjährige Freundschaft, bisherige Zusammenarbeit, kollegiale Verbundenheit, vielleicht aber auch Gleichgültigkeit oder Bequemlichkeit.
An dieser Stelle möchte ich klarstellen, dass es sich, auch wenn ich es so massiv berichte, immer um Einzelfälle handelt und natürlich auch Frauen Täterinnen sein können.
Aus all diesen unterschiedlichen Perspektiven müssen Konzepte entwickelt werden, um Übergriffe grundsätzlich zu reduzieren. Ebenso wichtig ist meiner Meinung nach, dass der Führungsaspekt und die Führungsqualifikation der Menschen eine wichtigere Rolle spielen müssen.
Fazit
Meine Erfahrung mit dem Thema innerhalb der Ärztinnen- und Ärzteschaft lässt folgenden Schluss zu: Es gibt, wie in allen anderen Berufsgruppen auch, Täter (meist Männer). Es gibt Opfer: Es gibt die Opfer, die die Tat nicht anzeigen und aushalten. Es gibt die Opfer, die froh sind, aus der Situation zu entfliehen und deren Angst vor dem Aufwand und vor eventuellen Folgeschäden nach einer Anzeige größer ist als die Zuversicht, nachfolgende Opfer durch Offenlegung schützen zu können. Es gibt darüber hinaus diejenigen Menschen im Umfeld, die „davon hören“, es aber nicht wahr-haben wollen, „es sich (von der Person) nicht vorstellen können“.
Leider gibt es immer auch die Mitwissenden, die die Augen verschließen oder sich wegducken und hoffen, dass sie sich nie äußern müssen. Diese Gruppe macht mich richtig wütend. Diesen Menschen möchte ich gerne zurufen: „Sie machen sich mitschuldig, auch wenn Sie sich wegducken, auch wenn Sie wegschauen!“ Es ist aber auch die Gruppe, die in erster Linie angesprochen werden muss, um Veränderung voranzubringen. Sie bauen – oft gutgläubig – um den Täter eine schützende Mauer, sie halten das Geschehen am Laufen, und sie gefährden damit die nächsten Opfer. Ihnen müssen wir alle laut zurufen: „Wer schweigt, macht sich mitschuldig und wird zum Mittäter!“
E-Mail: christiane.gross@aerztinnenbund.de
Links:
Dieser Beitrag beleuchtet Grenzverletzungen und Machtmissbrauch mit Blick auf das Gesundheitswesen. Auch wenn grundsätzlich alle Berufsgruppen und Berufszweige gleichermaßen betroffen sein können, sind Beteiligte aller Parteien im Gesundheitswesen wegen verschwimmender Grenzen zwischen Beruf und Privatleben zusätzlich gefährdet.
Grenzverletzungen stellen eine tiefgreifende Verletzung persönlicher Integrität für Menschen aller Altersgruppen, aller Geschlechter, aller Ethnien, aller Berufe dar. Sie gehen häufig Hand in Hand mit Machtmissbrauch. Ein vorhandenes Machtgefälle – im Gesundheitswesen oft durch gelebte patriarchale Strukturen – bereitet den Grenzverletzungen fruchtbaren Boden. Manchmal geschehen sie auch unwissentlich oder aus Leichtsinnigkeit. Grenzverletzungen können durch Blicke, Worte und Taten ausgelöst werden. Sie reichen von Diskriminierungen, Entwertungen, Lächerlichmachen, Sexismus oder Beschämung bis hin zu Mobbing, Gewalt, Erpressung, sexuellen Überriffen und sexualisierter Gewalt. Frauen sind bei sexuellen Übergriffen und Diskriminierung häufiger betroffen, Außenseiter und ältere Kolleginnen und Kollegen sind häufiger Opfer von Mobbing.
{{IMG=1905}}Sexualisierte Gewalt umfasst alle sexuellen Handlungen, die gegen den Willen einer Person vorgenommen werden oder bei denen aufgrund von Machtverhältnissen keine Zustimmung möglich ist. Zur Definition – beginnend bei sexistischen Kommentaren, ehrverletzenden Bemerkungen, aufdringlichen Fragen, obszönen Witzen, schlüpfrigen SMS, Mails oder Posts, eindeutigen Angeboten, Begrapschen, Betasten bis hin zu Nötigung und Gewalt – verweise ich auf den Flyer des DÄB.
Im Gesundheitswesen kommt hinzu, dass die Grenzen zwischen Privatem und Beruflichem stärker verschwimmen als in anderen Berufen:
- Sie verschwimmen bei den zu übernehmenden Nachtdiensten: übernachtet wird in der Klinik. Es gibt ein Bett. Man zieht sich aus, man „lebt“ im Nebenzimmer.
- Im OP-Bereich wird die Kleidung gewechselt. OP-Kleidung ist insgesamt lockerer, gleichförmiger. Grenzen verschwimmen zwischen Geschlechtern, einzelnen Berufsgruppen und Hierarchieebenen.
- Als sehr privat empfundene und oft auch schambesetzte Körperstellen von Patientinnen und Patienten werden bei Eingriffen entblößt.
Patientinnen und Patienten als Opfer und als Täter
Entblößte Körperstellen können vereinzelt be- oder entwertende Fantasien anregen. Das Verbalisieren dieser Fantasien oder auch inadäquates Anfassen sind als Übergriffe zu werten. Da die Patientinnen und Patienten narkotisiert und machtlos sind, verschwimmt hier eine weitere Grenze: Hemmungen fallen. Auch anwesende Mitarbeitende können betroffen sein, weil sie Scham empfinden, wenn sie zuschauen/-hören, wie mit dem Opfer umgegangen wird. Bei entsprechenden Bemerkungen gilt man als Spaßbremse, uncool oder gar unmännlich. Oder man schweigt aus Angst, bei Protest an an-derer Stelle benachteiligt zu werden. Grundlage ist Machtmissbrauch.
Während Patientinnen und Patienten, die Übergriffe bei vollem Bewusstsein erleben, selbst tätig werden können, sind bei narkotisierten Menschen alle Anwesenden gefordert. Angezeigte Grenzverletzungen müssen berufsrechtlich geprüft werden und können ggf. bis zum Entzug der Approbation führen. Diese Fälle, insbesondere bei sexuellen Grenzverletzungen, müssen grundsätzlich an die Berufsgerichte weitergeleitet werden, zum Schutz vor Schädigung des ärztlichen Berufes und zum Schutz der Patientinnen und Patienten vor Folgefällen.
Auch seitens der Patientinnen und Patienten können gegenüber dem behandelnden Personal Grenzen verschwimmen. Kleidung bietet keinen Schutz mehr. Nähe durch körperliche Untersuchungen kann falsch interpretiert werden. Auf Fehldeutungen von Zuwendung und Empathie kann forderndes oder sexualisiertes Verhalten folgen. Handelt es sich um Patientinnen und Patienten bei klarem Bewusstsein und nicht um einen Notfall, kann die (Weiter-)Behandlung verweigert werden. Handelt es sich um nicht zurechnungsfähige Personen, ist darauf zu achten, dass eine weitere Behandlung nur mit entsprechenden Schutzmaßnahmen (zweite Person, offene Zimmertüren etc.) erfolgt. Der Schutz des Personals muss immer an erster Stelle stehen – vor jeder ökonomischen Überlegung.
Machtmissbrauch bei Mitarbeitenden
Berichte von Gewalt durch Patientinnen und Patienten in Praxen und Kliniken nehmen zu. Berichte über Gewalt und Missbrauchserfahrungen innerhalb der Kollegenschaft sind selten zu lesen. Warum ist das so? Warum wurde ich auf dem Deutschen Ärztetag 2018 als Mitantragstellerin für einen Antrag zur Vorsorge gegen sexuelle Übertritte innerhalb der Ärzteschaft mit den Worten „Ziehen Sie den Antrag zurück! Das gibt es doch bei uns nicht“ angegangen? Der Antrag wurde schließlich mit Nichtbefassung belegt. 2019 wurde ein ähnlicher Antrag dann an den Vorstand überwiesen. Offiziell ist das Problem kein Thema der Bundesärztekammer geworden, aber einige Ärztekammern haben es ernst genommen und Ansprechstellen geschaffen (u. a. die Ärztekammern Nordrhein, Niedersachsen, Hessen und Westfalen-Lippe).
Als langjährige Ansprechpartnerin des DÄB sowie im Hintergrund einer solchen Kontaktstelle der Ärztekammer Nordrhein habe ich Gespräche mit Betroffenen geführt. Eine Gemeinsamkeit haben alle: Keine der Kolleginnen hat Anzeige erstattet, auch wenn einige – letztendlich frustran – Kontakt zur Personalvertretung aufgenommen haben. Das Phänomen da- hinter heißt Abhängigkeit und wird durch patriarchalische Strukturen, wie sie gerade in den Hierarchieebenen im Gesundheitswesen und an Universitäten noch häufig sind, begünstigt.
In Kliniken kann Abhängigkeit schon bei der Dienstplanung beginnen, geht weiter bei der Einteilung zu Stationen, OPs und Interventionen und gipfelt in der Wissenschaft bei der Zu- oder Absage von Unterstützung, Bewertung, Beurteilung, beim Kontaktaufbau zu Netzwerken. All diese Abhängigkeiten können genutzt werden für kleine Erpressungen bis hin zu Machtmissbrauch durch Mobbing oder gar sexuelle Übergriffe.
Sexuelle Übergriffe erleben meist jüngere Frauen durch (ältere) Kollegen aus höheren Hierarchieebenen. Manchmal beginnt alles mit einer Romanze, einer Affäre. Am Ende stehen Ängste, sich selbst zu schädigen, die Karriere zu behindern, die Weiterbildung nicht schnell genug zu absolvieren. Diese Ängste lassen Betroffene stillhalten. Scham steht dem Offenlegen häufig im Weg, ausgelöst durch Fragen: „Wie kann mir so etwas passieren? Was habe ich falsch gemacht?“
Interessanterweise kennen die betroffenen Frauen oft auch „Vorgängerinnen“, denen es ähnlich erging. Sie wissen, welche Maßnahmen bei Verweigerung folgen können. Sie haben massive Entwertungen und heftiges Mobbing der Betroffenen mitbekommen. Sie haben erlebt, wie die Stimmung in der Kollegenschaft kippen kann. Sie kennen Kolleginnen, die gehen mussten, denen gekündigt wurde. Sie kennen Kolleginnen, die gegangen sind, weil sie es nicht mehr aushielten. Sie kennen Kolleginnen, die still ausgehalten haben, bis der nächste Karriereschritt erreicht war. Sie haben erlebt, wie sich deren Persönlichkeit dabei verändert hat.
Für mich kristallisierten sich zwei Fragen heraus:
- Warum hat keine der Frauen, die weggegangen sind, danach eine Anzeige gestellt?
- Wenn Frauen aus der Abteilung Taten/Täter kennen, dann wissen auch die Männer davon. Warum reagiert niemand?
Zu Frage 2: Auch wenn es Menschen im Täterumfeld gibt, die sich eine solche Tat nicht vorstellen können, die gutgläubig oder nicht nah genug am Täter sind, gibt es andere, die Gerüchte gehört haben, von Vorfällen wissen oder zumindest die Anzeichen dafür deuten könnten. Dass diese Menschen bei Übergriffen nicht reagieren, ist ebenfalls mit Selbstschutz zu erklären. Auch hier kann Machtmissbrauch der Grund sein, indem sich der Täter auf die Abhängigkeit der anderen verlässt: gemeinsame wissenschaftliche Arbeit, langjährige Freundschaft, bisherige Zusammenarbeit, kollegiale Verbundenheit, vielleicht aber auch Gleichgültigkeit oder Bequemlichkeit.
An dieser Stelle möchte ich klarstellen, dass es sich, auch wenn ich es so massiv berichte, immer um Einzelfälle handelt und natürlich auch Frauen Täterinnen sein können.
Aus all diesen unterschiedlichen Perspektiven müssen Konzepte entwickelt werden, um Übergriffe grundsätzlich zu reduzieren. Ebenso wichtig ist meiner Meinung nach, dass der Führungsaspekt und die Führungsqualifikation der Menschen eine wichtigere Rolle spielen müssen.
Fazit
Meine Erfahrung mit dem Thema innerhalb der Ärztinnen- und Ärzteschaft lässt folgenden Schluss zu: Es gibt, wie in allen anderen Berufsgruppen auch, Täter (meist Männer). Es gibt Opfer: Es gibt die Opfer, die die Tat nicht anzeigen und aushalten. Es gibt die Opfer, die froh sind, aus der Situation zu entfliehen und deren Angst vor dem Aufwand und vor eventuellen Folgeschäden nach einer Anzeige größer ist als die Zuversicht, nachfolgende Opfer durch Offenlegung schützen zu können. Es gibt darüber hinaus diejenigen Menschen im Umfeld, die „davon hören“, es aber nicht wahr-haben wollen, „es sich (von der Person) nicht vorstellen können“.
Leider gibt es immer auch die Mitwissenden, die die Augen verschließen oder sich wegducken und hoffen, dass sie sich nie äußern müssen. Diese Gruppe macht mich richtig wütend. Diesen Menschen möchte ich gerne zurufen: „Sie machen sich mitschuldig, auch wenn Sie sich wegducken, auch wenn Sie wegschauen!“ Es ist aber auch die Gruppe, die in erster Linie angesprochen werden muss, um Veränderung voranzubringen. Sie bauen – oft gutgläubig – um den Täter eine schützende Mauer, sie halten das Geschehen am Laufen, und sie gefährden damit die nächsten Opfer. Ihnen müssen wir alle laut zurufen: „Wer schweigt, macht sich mitschuldig und wird zum Mittäter!“
E-Mail: christiane.gross@aerztinnenbund.de
Links:
- C. Kaffanke: Ausgeliefert – Die Macht der Chefärzte. Das Erste, Report Mainz, 12/2024
- C. Kaffanke: Diskriminierung, Benachteiligung, Mobbing.
Das Erste, 3/2024 - A. Agarwala & H. Grabbe: Mutter oder Chirurgin? Entscheide dich. ZEIT Nr. 27/2025 (hinter einer Paywall)