Foto: Jochen Rolfes

100 Jahre Ärztinnenvertretung – wie geht es weiter?

Wo stehen wir heute? Fast 50 Prozent der berufstätigen Ärzt:innenschaft sind Frauen – Tendenz weiter steigend, wie an den Zahlen der Studierenden abzulesen ist. Leider wird oft kolportiert, dass genau dieser gestiegene Frauenanteil der Grund sei, warum die medizinische Versorgung aktuell schwierig sei. Wir hören: Die Ärztinnen wollen nicht ganztags arbeiten. Die Ärztinnen wollen alle lieber zu Hause die Kinder betreuen. Die Ärztinnen wagen sich nicht in die Niederlassung. Die Ärztinnen fordern oft eine Quote und nehmen damit den Männern die Positionen weg und das beginne schon beim Studium, weil die Frauen bessere Abiturnoten haben und entsprechend mehr Studienplätze erhalten als Männer. Die Ärztinnen sind also schuldig an allem Elend im Gesundheitssystem?

Nein, natürlich nicht! Die Misere liegt ganz woanders, nämlich da, wo eine Teilzeitstelle mehr Einsatz bedeutet als eine Ganztagsstelle in vielen anderen Berufen. Sie liegt da, wo die Kinderbetreuung schon für einen geregelten 9-to-5-Job vollkommen unzureichend ist oder gar nur bis zum Mittag angeboten wird, da, wo Kinderbetreuung ständig ausfällt. Aber sie liegt auch da, wo Ökonomie über der Ethik steht.

Männer-Netzwerke noch im Vorteil

Nur 13 Prozent der Lehrstühle an den deutschen Universitätskliniken sind mit Frauen besetzt. In den letzten Jahren hat sich hier nicht viel verändert. Nur zwei Ärztekammern und zwei Zahnärztekammern werden von Präsidentinnen geleitet. Offenbar funktionieren die Karriere-Netzwerke der Männer immer noch besser als die der Frauen, aber warum? In den Kammerversammlungen sitzen immer noch mehr Männer als Frauen, mehr Alte als Junge, mehr mit Beharrungsvermögen als solche, die einen Anpassungsbedarf sehen.

Die Generation der über 60-Jährigen hat noch erlebt, dass es eine Hauptaufgabe von Frauen war, Männern den Rücken freizuhalten: Die Frauen dieser Generation konnten – zumindest im Westen – oft ihren beruflichen Weg nicht gehen, da keinerlei Kinderbetreuungsmöglichkeiten bestanden, sofern nicht zufällig die Großeltern am Ort lebten. Diese Generation älterer Ärztinnen leidet nun zudem oft insbesondere an den kleinen Renten, weil niemand sie darauf aufmerksam gemacht hat, dass sie auch in der Elternzeit in die berufsständischen Versorgungswerke hätten einzahlen können. Jüngere Ärztinnen erlebten und erleben andere Probleme, nämlich dass es nicht einfach ist, wenn beide Elternteile arbeiten. Nur mit gegenseitigem Verständnis ist die Weiterbildungszeit zu absolvieren. Immerhin scheint die partnerschaftliche Umsetzung normaler zu sein. Auch die Männer möchten Familienzeit erleben. Die Rahmenbedingungen behindern sie und ihn. Der Ärztinnenbund fordert daher seit Langem: Arbeitszeiten von 50, 60 oder mehr Stunden pro Woche für eine ganze Stelle dürfen nicht mehr die Norm sein! 40 Stunden pro Woche inklusive Nacht- und Wochenenddienste brächten viel Freiraum!

Mehr weiblicher Blick aus der Führungsebene würde schon vieles verändern. Mehr Frauen in den Gremien des Gesundheitswesens könnten auf die Defizite, die vielleicht Männer viel weniger wahrnehmen, stärker aufmerksam machen. Direkt im Anschluss zu diesem Artikel finden Sie die Stimmen von 4 jungen Kolleginnen zu aktuellen frauenpolitischen Themen in der Medizin.

Ein weiterer Grund für Defizite, die sich allenthalben in der Versorgung zeigen: Die geschlechterspezifische Medizin ist nach wie vor nicht flächendeckend umgesetzt. Ärztinnen haben diese Problematik früh erkannt: 1981 hatte der DÄB-Kongress den Titel „Differenzierung von Mann und Frau aus medizinischer Sicht“, 1999 gar den Titel „Schlagen Frauenherzen anders?“. Jahrelang wurde das Thema als „Frauenmedizin“ abgetan. Erst jetzt tragen die Bemühungen aus mehr als 30 Jahren langsam Früchte. In der Gesellschaft – insbesondere unter Patientinnen und Patienten – wird die geschlechterspezifische Medizin, die früher Gendermedizin hieß, landauf, landab thematisiert. Auf die Umsetzung der Grundlagen in der neuen Approbationsordnung warten wir jedoch immer noch. Die Politik ist hier am Zuge und in der Pflicht.

Wenigstens ist die Weiterbildung nicht mehr möglich, ohne das Thema zumindest zu streifen, auch wenn leider immer noch einige Ärzte – vielleicht auch Ärztinnen – die geschlechtersensiblen Aspekte als überbewertet empfinden. Es gibt darum bei diesem Thema noch einiges zu tun für den Deutschen Ärztinnenbund, schon allein, weil Genderaspekte in der Versorgung zwar breit diskutiert werden, aber immer noch zu selten in der Praxis eine Rolle spielen.

Mehr Frauen im ärztlichen Beruf sind nicht nur kein Problem, sie könnten ein wesentlicher Teil der Lösung sein – vorausgesetzt, die Rahmenbedingungen würden korrigiert. Neuere Studien verdichten die Belege, dass Ärztinnen bei der Behandlung ein besseres Ergebnis erzielen. Es liegt nahe, dies in Verbindung zu setzen mit stärkerer Zuwendung zu den Patientinnen und Patienten oder auch mit mehr Zeit, die sich Ärztinnen für die einzelnen Menschen nehmen. Dafür akzeptieren sie ein geringeres Einkommen! Diese Ungerechtigkeit kommt zum einen von einem System, das aktuell eine hohe Zahl an Behandlungen stärker honoriert und zum anderen technische, aber auch die hochtechnisierten chirurgischen und internistischen Fächer besser bezahlt als sprechende Medizin. Wahrscheinlich ist das noch eine Folge der Technikgläubigkeit der 1970er Jahre. Sie geht jetzt zu Lasten der Ärztinnen, die auch häufiger als Ärzte Zuwendungsfächer wie Allgemeinmedizin, Kinder- und Jugendmedizin oder Psychotherapie wählen.

Themen angekommen, aber nicht gelöst

Derzeit scheinen sich einige grundsätzliche Fehler in die Zukunft zu perpetuieren: Die Digitalisierung ist ein Feld, das sich gerade defizitär entwickelt, denn sie baut auf ungeeigneten Studienergebnissen auf. Auf Studien, die wissenschaftliche Ergebnisse darstellen, die hauptsächlich an männlichen Versuchstieren und männlichen Probanden durchgeführt wurden und so verzerrte und darum gefährliche Daten zur Grundlage von Algorithmen machen. All diese Punkte zeigen, dass dem DÄB die Aufgaben noch lange nicht ausgehen werden!

Vereinbarkeit von Beruf und Familie, vernünftige Arbeitszeiten, die Forderung, Medi­zin wieder mehr an ethischen Grundsätzen als an ökonomi­schen Zwängen auszurichten oder die Umsetzung der geschlechterspezifischen Medizin sind Themen, die Frauen offensichtlich früh wahrgenommen haben und die nach zähem Kampf endlich in der gesamten Ärzt:innenschaft angekommen sind – aber noch lange nicht befriedigend gelöst wurden.

Grenzen setzen gegen Sexismus und gegen sexuelle Übergriffe und Gewalt sind zusätzliche wichtige Forderungen von Ärztinnen. Hier herrscht noch viel Wegschaukultur und Verdrängung. Ärzte haben solche Probleme bislang oft entweder nicht wahrhaben oder auch nicht aufdecken wollen. Ein Umdenken ist dringend geboten! Der Deutsche Ärztinnenbund hat sich bereits 2013 mit einer Kampagne öffentlich zu sexu­ellen Übergriffen im Beruf geäußert. Doch immer noch haben wir einen sehr weiten Weg vor uns, da offensichtlich die betroffenen Netzwerke zu verstrickt und verflochten sind, um eine Aufarbeitung und Neuorientierung zu erleichtern. Auch die Zuständigkeiten sind oft noch unklar und Betroffene trauen sich noch recht selten, Anzeige zu erstatten – aus Scham und Furcht vor beruflichen Nachteilen.

Oft war der Deutsche Ärztinnenbund der ärztliche Verband, der Themen angestoßen hat, die dann in der ärztlichen Öffentlichkeit wahrgenommen, von anderen Verbänden aufgenommen und weiterdiskutiert wurden. Als aktuelle Präsidentin des DÄB bin ich stolz auf die Kolleginnen und ihren Weitblick, dank dessen der DÄB viel bewegt hat! Neben den bereits genannten Beispielen ist auch die neue Mutterschutzgesetzgebung so ein Feld, in dem der Deutsche Ärztinnenbund entscheidende Akzente gesetzt hat – und in dem er nicht lockerlässt. In diesem Sinne wünsche ich uns allen: weiter so!

Dr. med. Christiane Groß, M.A., ist seit 2015 Präsidentin des DÄB. Sie ist Fachärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapie, ärztliches Qualitätsmanagement und war als Ärztliche Psychotherapeutin in Wuppertal niedergelassen. Unter anderem war sie von 1997 bis 2024 aktiv in der Ärztekammer Nordrhein, dort mehr als 20 Jahre Mitglied der Kammerversammlung und fast 20 Jahre Mitglied im Vorstand. 2024 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.