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Corona-Krise und Gendermedizin: Mehr Aufmerksamkeit, aber viele offene Fragen

Angesichts der beispiellosen Umstände der Corona-Krise hatte der Deutsche Ärztinnenbund im April gefordert, die Genderforschung in medizinischen und sozialen Fragen zu intensivieren. Aktuell gibt es nun viele Veröffentlichungen zu „Corona und Gender“ – wie schön, dass Genderfragen ins Bewusstsein kommen und bearbeitet werden! Mit drei Publikationen möchte ich Sie hier bekannt machen. Sie beleuchten das Thema aus verschiedenen Perspektiven.

VERSCHÄRFUNG VON PROBLEMEN
Corona und Gender – ein geschlechtsbezogener Blick auf die Pandemie und ihre (möglichen) Folgen


Die Politikwissenschaftlerin Dr. Regina Frey, Leiterin der Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, hat mit ihrem Arbeitspapier Aufmerksamkeit erregt. Sie listet darin auf, welche geschlechtsrelevanten sozialen Probleme die Corona-Pandemie verschärft hat.Sie berichtet, dass Forderungen zur Aufwertung sogenannter systemrelevanter Berufe in der Sorge- und Care-Arbeit schon lange vor Corona auf dem Tisch der politischen Entscheidungsträger lagen: bessere Arbeitsbedingungen, angemessenere Bezahlung, Aus- und Weiterbildung. Dort liegen sie immer noch. „Es sind die Frauen, die das Land rocken“, zitiert Frey den Berliner Tagesspiegel und verweist auf die zahlreichen Dankes bekundungen, auch von hochrangigen Politiker*innen, an Supermarktkassiererinnen und Pflegerinnen.

Im Gesundheitsbereich arbeiten fast sechs Millionen Menschen, davon sind etwa vier Millionen Frauen. In der Krise erledigen sie ihre Arbeit unter großer Belastung und mit einem hohen persönlichen Infektionsrisiko. Sie wurden als letzte Bevölkerungsgruppe überhaupt wirksam geschützt.

Mehr unbezahlte Sorgearbeit
Doch die Care-Krise betrifft nicht nur die bezahlte Sorgearbeit. Frauen wenden pro Tag im Durchschnitt 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf als Männer. Dieser Unterschied wird als „Gender Care Gap“ bezeichnet. Ob sich dieser Graben nach der Krise weiter öffnet oder sich die Hoffnung erfüllt, dass er sich schließt, weil wir alle (!) aus der Krise gelernt haben? Das ist derzeit offen.

Überlastung und Konflikte sind programmiert, wenn Berufstätigkeit, Haushalt, Kinderbetreuung und Schulunterricht in einem engen familiären Umfeld stattfi nden müssen. Und wer macht das meiste: die Frauen, die überdies in Corona-Zeiten noch häufi ger Opfer häuslicher Gewalt sind.

Ähnlich war es schon 2008
Schon in der Wirtschaftskrise 2008 erhielten bedeutend mehr Männer Kurzarbeitergeld als Frauen. Zudem bekamen die Frauen – weil sie oft weniger verdienen als Männer – natürlich weitaus geringere Beträge. Die berechtigte Frage nach der Unterstützung, wenn Zehntausende weibliche Beschäftigte ihren Job verlieren – wie etwa bei der Drogeriekette Schlecker –, hatte schon in der damaligen Krise keine politischen Konsequenzen.

Frey appelliert: In der Pandemie muss die Politik Rechenschaft darüber ablegen können, wie sich alle getroffenen Maßnahmen auf Männer und auf Frauen auswirken, ein geschlechtssensibler Blick mit entsprechenden Konsequenzen ist notwendig!

Download des Arbeitspapiers von Regina Frey

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WECHSELWIRKUNG GESCHLECHT UND GENDER
The impact of sex and gender in the COVID-19 pandemic


Prof. Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione ist Professorin für Gendermedizin an der Radboud Universität in Nijmegen, Niederlande. In ihrer Fallstudie für die European Commission (Directorate-General for Research and Innovation) geht es um die gegenseitige Abhängigkeit von biologischem (Sex) und sozialem (Gender) Geschlecht und die gesundheitlichen Auswirkungen in der gegenwärtigen Pandemie.

Die Autorin beschreibt die Herausforderung so: Obwohl Infektionserkrankungen jeden treffen können, werden Immunantwort und Krankheitsverlauf wesentlich sowohl durch das biologische als auch durch das soziale Geschlecht geprägt. So sind biologische Faktoren etwa auch von der Qualität der Gesundheitsversorgung, von ökonomischen und logistischen Verfügbarkeiten beeinflusst. Aktuelle Studien weltweit – https://globalhealth5050.org/covid19/ – zeigen: Es sterben mehr Männer an der Infektion. Allerdings leiden Frauen mehr als Männer langfristig unter den ökonomischen und sozialen Konsequenzen der Corona-Pandemie.

Die Immunantwort fällt bei beiden Geschlechtern unterschiedlich aus: Frauen scheinen auf virale Infekte und auch auf Impfungen heftiger mit einer Antikörperproduktion zu reagieren als Männer. Die Gründe dafür liegen in der hormonellen und in der unterschiedlichen genetischen Ausstattung von Männern und Frauen. Frauen haben so zwar ein höheres Risiko für Autoimmunerkrankungen, ein geringeres jedoch für Infektionen.

Geschlechtsspezifische Rezeptormenge
Bestimmte Antikörpertypen (IgGs) fanden sich bei Frauen nach einer SARS-CoV-2 Infektion in größerer Ausprägung als bei Männern. Diese Unterschiede könnten für die Sensitivität und Spezifität von serologischen Tests von Bedeutung sein. Das Virus benutzt unter anderem einen ACE-Rezeptor, um die Wirtszellen zu infizieren. Dieser Rezeptor wird über das X-Chromosom durch hormonelle Faktoren und Therapien beeinflusst. Allerdings ist seine genaue Bedeutung noch unklar. Studien liefern bisher widersprüchliche Ergebnisse.

Passende Dosierungen und Nebenwirkungen von Impfstoffen und Medikamenten unterscheiden sich wahrscheinlich bei den Geschlechtern. Medikamente, die jetzt als Therapie bei der Corona-Infektion getestet werden, müssen die Vulnerabilität der kardialen Erregungsleitung (QT-Verlängerung) bei Frauen mit berücksichtigen, ebenso spielt die höhere Nebenwirkungsrate bei verschiedenen Arzneien bei Frauen eine Rolle.

Genderspezifische Risiken bergen die meist von Frauen geleisteten Arbeiten in der Gesundheitsversorgung ohne eine ad-äquate, individuell angepasste Schutzausstattung trotz eines hohen Infektionsrisikos durch Patientenkontakt.

Frauen offener für Infektionsschutz
Präventionskampagnen zeigten, dass mehr Frauen als Männer die Handhygiene beachten. Offensichtlich reagieren Frauen bereitwilliger auf die Empfehlungen für Schutzmaßnahmen. Männer dagegen stimmen eher widerwillig zu.

Auch öffentliche Regelungen führen zu genderspezifischen Belastungen, denn die angeordneten Kontaktbeschränkungen und Quarantänemaßnahmen betreffen unterschiedliche Gruppen in verschiedenem Maß. „Systemrelevante Berufe“ werden sichtbar, die Vertreter und Vertreterinnen arbeiten jedoch auch unter hohem physischem und psychologischem Stress. Andere verlieren ihre Arbeit und geraten in unvorhergesehene finanzielle Abhängigkeiten. Ein ganzes Sozialgefüge gerät durcheinander – mit Auswirkungen auf Machtverhältnisse, Rollenbilder etc. Darüber hinaus erfahren Patienten und Patientinnen eventuell medizinische Einschränkungen, auch wenn sie gar nicht vom Corona-Virus betroffen sind.

Insgesamt benennt die Autorin folgende sexgebundene Faktoren: den Virus-Rezeptor und seine Verteilung und Reproduktion im Wirts-Organismus, Antikörperbildung, hormonelle Einflüsse, Wirksamkeit und Nebenwirkung von Therapien. Gendergebundene Faktoren sind: Virus-Exposition, Bewusstsein für Symptome, Zugang zu einem Virus-Test, Vorhandensein und Zugang zu Schutzmaßnahmen, Präventionsverhalten und Einbindung in klinische Studien.

Fazit: Genderdimensionen müssen beim Umgang mit der Pandemie eine Rolle spielen – in Forschung und Entwicklungsprozessen. Nur dann können die aus den sozio-ökonomischen Verhältnissen resultierenden akuten und längerfristigen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern beseitigt werden.

Die Studie von Sabine Oertelt-Prigione lässt sich hier abrufen.

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UNTERSCHIEDLICHE STERBLICHKEIT
Impact of sex and gender on COVID-19 outcomes in Europe


Die Übersichtsstudie stammt von fünf Autorinnen aus der Schweiz, Österreich, Deutschland und USA (Catherine Gebhard, Vera Regitz-Zagrosek, Hannelore K. Neuhauser, Rosemary Morgan und Sabra L. Klein). Der Schwerpunkt liegt auf der Frage nach den biologischen Unterschieden, welche die unterschiedliche Sterblichkeit bei Männern und Frauen mit einer COVID-19-Erkrankung erklären könnten.

Eine Tabelle belegt die Differenz in der Sterblichkeitsrate in vielen Ländern der Welt: So erkranken zwar beispielsweise in Belgien, Portugal und Frankreich mehr Frauen als Männer. Bezogen darauf sterben jedoch mehr ältere Männer als Frauen an COVID-19. Eine Überprüfung solcher Mitteilungen in der Studie ergab: Die Unterschiede bestehen in allen Altersgruppen, besonders jedoch im Alter zwischen 50 und 59 Jahren.

Um in Körperzellen zu gelangen, heftet sich das Virus an eine zelluläre Serin-Protease und an einen ACE-Rezeptor, der unter anderem auch in der Lunge vorhanden ist. Die Beziehung zwischen dem Rezeptor und COVID-19 ist derzeit noch unklar.

Serin-Protease in der Prostata
Biologisches Geschlecht und Hormone beeinflussen die Kaskade des Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS) an vielen Stellen: Die ACE-Aktivität steigt etwa nach einer Ovarektomie und fällt nach einer Orchiektomie. Ob dies jedoch für Corona eine klinische Relevanz besitzt, bleibt vorerst offen, weil mehrere Stu dien mit Männern und Frauen widersprüchliche Ergebnisse erbracht haben.

Die Serin-Protease TMPRSS2 begünstigt den Viruseintritt in Köperzellen. Sie wird hauptsächlich in der Prostata exprimiert und durch Androgene hochreguliert. Ihre Funktion und Präsenz in Lungenzellen ist unbekannt. Auch diese Autorinnen verweisen außerdem auf die geschlechtsspezifische Immunantwort als möglichen Einflussfaktor.

Männer mit mehr Komorbiditäten
Darüber hinaus dürfen genderbezogene Risikofaktoren nicht außer Acht gelassen werden, etwa dass all die Frauen in sozialen Berufen vermehrt mit Menschen und damit Viren in Kontakt kommen. Andererseits sind viele Komorbiditäten geschlechtsgebunden und betreffen Männer im Durchschnitt vermehrt: COPD, Hypertonie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch Rauchen und Alkoholkonsum. Vernachlässigung von Präventionsmaßnahmen und späteres Aufsuchen von medizinischer Hilfe ist ausgeprägter bei Männern als bei Frauen. Sorgfältige Anamnesen müssen erhoben und ausgewertet werden, um die bis jetzt bekannten Geschlechtsunterschiede weiter aufzuklären. Darunter: kardiovaskuläre Risikofaktoren, sozio-ökonomischer Status, Menopausedaten, Schwangerschaften, hormonelle Kontrazeption, Hormonersatztherapie, Krebserkrankungen, Medikamentenvorgeschichte.

Therapietests im Überblick
Die Publikation enthält zudem Informationen zu geschlechtsspezifischen Antworten auf Impfungen und eine Übersicht zu Substanzen, die bisher als mögliche COVID-19 Therapeutika untersucht wurden, etwa Remdesivir und Hydroxychloroquin. Nebenwirkungen traten vor allem bei Frauen auf. Hydroxychloroquin wurde gegen Corona zurückgenommen.

Fazit: Die sex- und gendergebundenen Ungleichheiten, die durch die gegenwärtige Pandemie sichtbar geworden sind, verlangen die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Daten bei der Bekämpfung von Pandemien – und nicht nur dort. Die Gesundheitssysteme haben bislang den Einfluss von Sex und Gender in ihren Anstrengungen bei der Bekämpfung von Epidemien, Ausbrüchen und Pandemien vernachlässigt.

Die Studie von Gebhard et al. lässt sich hier abrufen.

Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk ist Vizepräsidentin des DÄB.

E-Mail: Gabriele.Kaczmarczyk@aerztinnenbund.de