Corona im Praxisalltag: Die psychologischen Herausforderungen haben dominiert
Ambulante Testzentren, Alten- und Flüchtlingsheime, die Dynamik sozialer Medien, Existenzängste und verunsicherte Mitarbeiter*innen und Patient*innen: Ein persönlicher Bericht über die Corona-Krise im Landkreis Viersen in Nordrhein.
Die letzten Monate in der haus-ärztlichen Praxis waren extrem anstrengend. Meine Kolleginnen Margot Kops, Dr. med. Gudrun Wirtz und ich betreiben an zwei Standorten in Kempen am Niederrhein eine große hausärztlich-internistische und diabetologische Praxis mit insgesamt sieben Ärzt*innen.
Zu Beginn des Jahres war unsere Einstellung noch eher verharmlosend, hatten wir doch in den Jahren unserer niedergelassenen Tätigkeit neben den jährlichen Grippe-Hochzeiten auch SARS, Schweinegrippe, Vogelgrippe und andere Infektionswellen überwunden.
Handeln trotz Unklarheit
Doch diesmal war alles anders: Primäres Problem – vor allem zu Beginn der Pandemie – war das Fehlen von Schutzkleidung. Fast über Nacht wurde es unmöglich, die geforderten FFP2- oder FFP3-Masken, geschweige denn normale Mund-Nasen-Masken sowie Desinfektionsmittel und Handschuhe, zu beschaffen. Außerdem war zunächst unklar, wer die notwendigen Testungen bezahlen würde und wie diese ablaufen sollten.
Solche Themen beschäftigten mich als Vorsitzenden der Kreisstelle Viersen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein und Mitglied des Vorstands der Ärztekammer Nordrhein. In dieser Funktion hatte ich nun erstmals Kontakt mit anderen Institutionen des Landkreises und nahm regelmäßig an Treffen des Krisenstabs teil, dem Vertreter des Kreisgesundheitsamtes, der Feuerwehr, der ärztlichen Hilfsorganisationen wie Deutsches Rotes Kreuz (DRK) und Malteser Hilfsdienst angehörten.
400 Tests an einem Tag
Gemeinsam hoben wir in enger Zusammenarbeit mit der Hauptstelle der KV Nordrhein ein ambulantes Testzentrum aus der Taufe, das an täglich wechselnden Orten des Kreises die Abstriche abnahm – auch und vor allem, um potentiell infi zierte Menschen aus den Praxen herauszuhalten. In diese Aktion waren mehrere niedergelassene Kolleg*innen einbezogen.
Allein am ersten Tag kamen wir auf über 400 Testungen. Täglich bestand ein immenser Organisationsaufwand, von der Diensteinteilung, der EDV-Ausstattung, über die sich ständig ändernden Vorgaben des Robert Koch-Instituts (RKI) bis hin zur Betreuung der zu testenden Personen. Meine ärztlichen und nicht-ärztlichen Kolleg*innen in meiner Praxis und in der Kreisstelle haben mich unterstützt und entlastet. Sonst wäre dieser Einsatz, der fast meinen gesamten Arbeitstag füllte, nicht möglich gewesen.
Erschütternde Einblicke
Hinzu kamen die Tests in Gemeinschaftsunterkünften im Kreis Viersen, etwa in Altenpflegeheimen und Flüchtlingsunterkünften. Die Pflegeheime waren durchweg gut geführt. Unser Eindruck: Sämtliche möglichen Vorkehrungen waren getroffen, um einerseits die Infektionsgefahr zu reduzieren und sich andererseits möglichst liebevoll den Bewohnern zuzuwenden, die ja keinen Besuch von Angehörigen erhalten durften. Betroffen machten meine Kolleg*innen und mich die Erlebnisse in den Flüchtlingsunterkünften. Sie führten uns teilweise erbarmungswürdige Zustände und auch einen fragwürdigen Umgang mit den Menschen unmittelbar vor Augen. Dies hat uns aufrichtig erschüttert.
Neben diesen Problemen gab es in allen Phasen der SARS-CoV-2-Pandemie vor allem – so meine persönliche Wahrnehmung – viele psychologische Aspekte im Umgang mit Patient*innen und bei der Führung der Mitarbeiter*innen zu beachten. Von allen Seiten spürten wir eine erhebliche Unsicherheit bis zur beginnenden Panik, die es zu objektivieren und abzufedern galt.
Praxis leer, Telefon belegt
Die Praxis war fast gespenstisch leer. Außer Corona gab es kaum Erkrankungen, die eine Rolle gespielt hätten. Sämtliche Vorsorgeuntersuchungen und Termine in Disease-Management-Programmen (DMPs) kamen quasi zum erliegen. Dafür war unsere Praxis telefonisch kaum noch erreichbar, lahmgelegt von zu vielen Anrufen in zu kurzer Zeit. E-Mails und Faxe kamen in Fluten und meine Medizinischen Fachangestellten waren nervlich maximal angespannt.
Auch die Organisationsstruktur unseres Praxistags änderte sich. Wir arbeite ten in zwei Schichten. Die beiden Teams begegneten sich nicht mehr, um die Praxis funktionsfähig und die Versorgung aufrechtzuerhalten, falls es in einer Schicht Infektionen gäbe und alle in Quarantäne müssten.
Große Verunsicherung bestand zunächst beim Kontakt mit Infizierten. Instinktiv hatten manche Mitarbeiter*- innen das Bedürfnis, sich selbst bei einem positiven Test auch sofort testen zu lassen – unabhängig davon, ob die Umstände das sinnvoll erscheinen ließen.
Unfreiwillige lokale Bekanntheit
Unvergesslich ist der erste positive Fall in unserer Praxis: Nachdem uns das Labor das positive Testergebnis gemeldet hatte, schlossen wir für etwa eine Stunde, um das Vorgehen mit dem Gesundheitsamt zu klären. An der Tür informierte ein Aushang die Patient*innen. Eine Person fotografierte ihn und verbreitete ihn über soziale Medien. Unsere Praxis ging dadurch quasi viral. Am nächsten Morgen meldeten sich das Radio und alle örtlichen Zeitungen telefonisch. Ich musste unsere angebliche Schließung dementieren. Und an der Tankstelle erlebte ich eine Kassiererin, die sich lieber versteckt hätte, als Geld von mir zu nehmen: aus Angst vor einer möglichen Infektion.
Fast täglich hatte ich Kontakt mit den Kolleg*innen aus den umgebenden Praxen und Kliniken. Abseits vom Medizinischen ging es immer wieder um den Rückgang beim Aufkommen an Patientinnen und Patienten und existentielle Sorgen, die daraus erwuchsen. Zumal die Terminabsagen bei den Privatpatient*innen überdurchschnittlich ausfielen. Von der Corona-Soforthilfe profitierte fast keine Praxis, dafür stand nun Kurzarbeit auf der Tagesordnung – mit vielen Unklarheiten für die ärztlichen und nichtärztlichen Mitarbeiter*innen und der Frage nach dem Schutzschirm.
Erfreulicherweise blieben italienische Verhältnisse auf den Intensivstationen aus. Trotzdem haben wir uns mit Triagierungssystemen und den Grenzen ärztlicher Entscheidungsprozesse auseinandersetzen müssen. Im Falle eines zu großen Krankenaufkommens in zu kurzer Zeit hätte das alle Ärzt*innen in erhebliche Gewissenskonflikte gebracht.
Umstellung für manche schwer
Zur Zeit sind die Patient*innenzahlen wieder normal. Allerdings bestehen im Praxisbetrieb weiter organisatorische Einschränkungen, deren Notwendigkeit sich nicht allen Praxisbesucher*innen gleichermaßen sofort erschließt. Beispielsweise haben wir zu Ende der Vormittags- und Nachmittagssprechzeit je eine Infektionssprechstunde eingerichtet. An sie halten wir uns strikt, um eventuell infektiöse von nichtinfektiösen Patient*innen fernzuhalten. Wir erfahren dafür viel Verständnis und Lob. Immer wieder gibt es aber auch Beschwerden, weil die alten, vertrauten Strukturen nicht mehr gelten.
Grundsätzlich spüren wir Niedergelassene von unseren Patient*innen viel Wertschätzung. Es hat sich herumgesprochen, dass im Durchschnitt sieben von acht Corona-Patient*innen in den niedergelassenen Praxen versorgt wurden und wahrscheinlich deswegen in Deutschland die SARS-CoV-2-Pandemie so viel glimpflicher abgelaufen ist als in anderen europäischen Staaten. Momentan hoffen wir auf weiterhin vernünftiges Verhalten und darauf, einer zweiten Welle zu entgehen.
E-Mail: kreis.viersen@kvno.de
Zu Beginn des Jahres war unsere Einstellung noch eher verharmlosend, hatten wir doch in den Jahren unserer niedergelassenen Tätigkeit neben den jährlichen Grippe-Hochzeiten auch SARS, Schweinegrippe, Vogelgrippe und andere Infektionswellen überwunden.
Handeln trotz Unklarheit
Doch diesmal war alles anders: Primäres Problem – vor allem zu Beginn der Pandemie – war das Fehlen von Schutzkleidung. Fast über Nacht wurde es unmöglich, die geforderten FFP2- oder FFP3-Masken, geschweige denn normale Mund-Nasen-Masken sowie Desinfektionsmittel und Handschuhe, zu beschaffen. Außerdem war zunächst unklar, wer die notwendigen Testungen bezahlen würde und wie diese ablaufen sollten.
Solche Themen beschäftigten mich als Vorsitzenden der Kreisstelle Viersen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein und Mitglied des Vorstands der Ärztekammer Nordrhein. In dieser Funktion hatte ich nun erstmals Kontakt mit anderen Institutionen des Landkreises und nahm regelmäßig an Treffen des Krisenstabs teil, dem Vertreter des Kreisgesundheitsamtes, der Feuerwehr, der ärztlichen Hilfsorganisationen wie Deutsches Rotes Kreuz (DRK) und Malteser Hilfsdienst angehörten.
400 Tests an einem Tag
Gemeinsam hoben wir in enger Zusammenarbeit mit der Hauptstelle der KV Nordrhein ein ambulantes Testzentrum aus der Taufe, das an täglich wechselnden Orten des Kreises die Abstriche abnahm – auch und vor allem, um potentiell infi zierte Menschen aus den Praxen herauszuhalten. In diese Aktion waren mehrere niedergelassene Kolleg*innen einbezogen.
Allein am ersten Tag kamen wir auf über 400 Testungen. Täglich bestand ein immenser Organisationsaufwand, von der Diensteinteilung, der EDV-Ausstattung, über die sich ständig ändernden Vorgaben des Robert Koch-Instituts (RKI) bis hin zur Betreuung der zu testenden Personen. Meine ärztlichen und nicht-ärztlichen Kolleg*innen in meiner Praxis und in der Kreisstelle haben mich unterstützt und entlastet. Sonst wäre dieser Einsatz, der fast meinen gesamten Arbeitstag füllte, nicht möglich gewesen.
Erschütternde Einblicke
Hinzu kamen die Tests in Gemeinschaftsunterkünften im Kreis Viersen, etwa in Altenpflegeheimen und Flüchtlingsunterkünften. Die Pflegeheime waren durchweg gut geführt. Unser Eindruck: Sämtliche möglichen Vorkehrungen waren getroffen, um einerseits die Infektionsgefahr zu reduzieren und sich andererseits möglichst liebevoll den Bewohnern zuzuwenden, die ja keinen Besuch von Angehörigen erhalten durften. Betroffen machten meine Kolleg*innen und mich die Erlebnisse in den Flüchtlingsunterkünften. Sie führten uns teilweise erbarmungswürdige Zustände und auch einen fragwürdigen Umgang mit den Menschen unmittelbar vor Augen. Dies hat uns aufrichtig erschüttert.
Neben diesen Problemen gab es in allen Phasen der SARS-CoV-2-Pandemie vor allem – so meine persönliche Wahrnehmung – viele psychologische Aspekte im Umgang mit Patient*innen und bei der Führung der Mitarbeiter*innen zu beachten. Von allen Seiten spürten wir eine erhebliche Unsicherheit bis zur beginnenden Panik, die es zu objektivieren und abzufedern galt.
Praxis leer, Telefon belegt
Die Praxis war fast gespenstisch leer. Außer Corona gab es kaum Erkrankungen, die eine Rolle gespielt hätten. Sämtliche Vorsorgeuntersuchungen und Termine in Disease-Management-Programmen (DMPs) kamen quasi zum erliegen. Dafür war unsere Praxis telefonisch kaum noch erreichbar, lahmgelegt von zu vielen Anrufen in zu kurzer Zeit. E-Mails und Faxe kamen in Fluten und meine Medizinischen Fachangestellten waren nervlich maximal angespannt.
Auch die Organisationsstruktur unseres Praxistags änderte sich. Wir arbeite ten in zwei Schichten. Die beiden Teams begegneten sich nicht mehr, um die Praxis funktionsfähig und die Versorgung aufrechtzuerhalten, falls es in einer Schicht Infektionen gäbe und alle in Quarantäne müssten.
Große Verunsicherung bestand zunächst beim Kontakt mit Infizierten. Instinktiv hatten manche Mitarbeiter*- innen das Bedürfnis, sich selbst bei einem positiven Test auch sofort testen zu lassen – unabhängig davon, ob die Umstände das sinnvoll erscheinen ließen.
Unfreiwillige lokale Bekanntheit
Unvergesslich ist der erste positive Fall in unserer Praxis: Nachdem uns das Labor das positive Testergebnis gemeldet hatte, schlossen wir für etwa eine Stunde, um das Vorgehen mit dem Gesundheitsamt zu klären. An der Tür informierte ein Aushang die Patient*innen. Eine Person fotografierte ihn und verbreitete ihn über soziale Medien. Unsere Praxis ging dadurch quasi viral. Am nächsten Morgen meldeten sich das Radio und alle örtlichen Zeitungen telefonisch. Ich musste unsere angebliche Schließung dementieren. Und an der Tankstelle erlebte ich eine Kassiererin, die sich lieber versteckt hätte, als Geld von mir zu nehmen: aus Angst vor einer möglichen Infektion.
Fast täglich hatte ich Kontakt mit den Kolleg*innen aus den umgebenden Praxen und Kliniken. Abseits vom Medizinischen ging es immer wieder um den Rückgang beim Aufkommen an Patientinnen und Patienten und existentielle Sorgen, die daraus erwuchsen. Zumal die Terminabsagen bei den Privatpatient*innen überdurchschnittlich ausfielen. Von der Corona-Soforthilfe profitierte fast keine Praxis, dafür stand nun Kurzarbeit auf der Tagesordnung – mit vielen Unklarheiten für die ärztlichen und nichtärztlichen Mitarbeiter*innen und der Frage nach dem Schutzschirm.
Erfreulicherweise blieben italienische Verhältnisse auf den Intensivstationen aus. Trotzdem haben wir uns mit Triagierungssystemen und den Grenzen ärztlicher Entscheidungsprozesse auseinandersetzen müssen. Im Falle eines zu großen Krankenaufkommens in zu kurzer Zeit hätte das alle Ärzt*innen in erhebliche Gewissenskonflikte gebracht.
Umstellung für manche schwer
Zur Zeit sind die Patient*innenzahlen wieder normal. Allerdings bestehen im Praxisbetrieb weiter organisatorische Einschränkungen, deren Notwendigkeit sich nicht allen Praxisbesucher*innen gleichermaßen sofort erschließt. Beispielsweise haben wir zu Ende der Vormittags- und Nachmittagssprechzeit je eine Infektionssprechstunde eingerichtet. An sie halten wir uns strikt, um eventuell infektiöse von nichtinfektiösen Patient*innen fernzuhalten. Wir erfahren dafür viel Verständnis und Lob. Immer wieder gibt es aber auch Beschwerden, weil die alten, vertrauten Strukturen nicht mehr gelten.
Grundsätzlich spüren wir Niedergelassene von unseren Patient*innen viel Wertschätzung. Es hat sich herumgesprochen, dass im Durchschnitt sieben von acht Corona-Patient*innen in den niedergelassenen Praxen versorgt wurden und wahrscheinlich deswegen in Deutschland die SARS-CoV-2-Pandemie so viel glimpflicher abgelaufen ist als in anderen europäischen Staaten. Momentan hoffen wir auf weiterhin vernünftiges Verhalten und darauf, einer zweiten Welle zu entgehen.
E-Mail: kreis.viersen@kvno.de