Aushalten ist keine Option

Freiheitsstrafen von über einem Jahr ohne Bewährung: Viele Menschen dürften das Urteil mit Zustimmung aufgenommen haben, das das Amtsgericht Berlin-Tiergarten im März 2025 gesprochen hat. Der Fall: Zwei junge Männer hatten an Silvester 2023/24 medizinisches Personal in der Notaufnahme einer Lichtenberger Klinik angegriffen. Ein Arzt hatte eine Platzwunde an der Augenbraue erlitten, ein Pfleger eine Gehirnerschütterung. Vor Gericht hatten die Täter ihre Tat damit begründet, sie hätten nach der Erstversorgung einer Schnittwunde zu lange auf die weitere Behandlung durch einen anderen Arzt warten sollen, der gerade einen Notfallpatienten versorgte (1).

Vorfälle wie der geschilderte schockieren. Selten sind sie nicht. Unfallkassen (UK) und die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) verzeichnen jedes Jahr einige tausend meldepflichtige Arbeitsunfälle aufgrund von Gewalt in Einrichtungen des Gesundheitswesens wie Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Betroffen sind unter anderem Mitarbeitende in Notaufnahmen sowie Rettungskräfte – siehe hierzu auch ein Interview mit Karl-Heinz Banse, Präsident des Deutschen Feuerwehrverbandes (DFV).

„Körperliche Übergriffe sind dabei nur ein Teil des Geschehens“, sagt Hannah Huxholl, Präventionsexpertin bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). Auch verbale Angriffe wie Beschimpfungen und Bedrohungen können für Beschäftigte eine starke Belastung sein. Die gesetzliche Unfallversicherung hat sich daher die Definition der Internationalen Arbeitsorganisation für ihre Präventionsarbeit zu eigen gemacht. Danach beinhaltet der Gewaltbegriff „eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung (…), die darauf abzielen, zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben, physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden zu verursachen, und umfasst auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung“ (2).

{{IMG=1896}}Der Schutz vor Gewalt, Aggression und Belästigung ist eine wichtige Aufgabe des betrieblichen Arbeitsschutzes. Das betont BGW-Hauptgeschäftsführer Jörg Schudmann: „Ganzheitliche Gewaltmanagementkonzepte reichen von Prävention über Notfallpläne bis zur Nachsorge. Für Betriebe ist es wichtig, solche Konzepte umzusetzen und Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten zu ergreifen.“ Die BGW und die UK unterstützen Unternehmensleitungen, Führungskräfte und Arbeitsschutzakteure dabei.

Wirksame Prävention beginnt mit einer klaren Haltung. „Führungskräfte sollten deutlich machen, dass Gewalt gegen die Mitarbeitenden nicht hingenommen wird“, so Huxholl – z. B. in persönlichen Gesprächen, aber auch durch kommunikative Maßnahmen wie Plakate. Solche Signale seien wichtig, denn manche Betroffene würden aus Scham oder Resignation schweigen. „Dass über Gewaltvorfälle gesprochen wird, ist aber die Voraussetzung dafür, dass sich etwas ändert. Nur wenn Führungskräfte wissen, was passiert, können sie Schutzmaßnahmen ergreifen.“

Stellen Arbeitgebende fest, dass in ihrer Einrichtung Risiken für Gewalt bestehen oder es bereits zu Übergriffen gekommen ist, müssen sie dies in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigen. Jede Erscheinungsform von Gewalt erfordert dabei ein Vorgehen, das an die jeweilige Situation und Zielgruppe angepasst ist. Bei der Kategorisierung hilft das sog. Aachener Modell. Es sortiert unterschiedliche Formen von Gewalt nach vier Stufen, anhand derer Präventionsmaßnahmen und Verantwortlichkeiten festgelegt werden können (2). 

Ein Beispiel für die Umsetzung dieses Ansatzes ist das Klinikum Worms, das 2024 mit dem Präventionspreis der UK Rheinland-Pfalz ausgezeichnet wurde. Nach einem gewalttätigen Übergriff entwickelte ein Arbeitskreis ein System für die Erfassung von Gewaltvorfällen und legte „Eskalationsstufen“ fest, die wiederum bestimmte Maßnahmen nach sich ziehen. Ein wichtiges Instrument im gesamten Prozess: die Erarbeitung einer betrieblichen Checkliste für eine Gefährdungsbeurteilung. In Workshops wurden Stationen, Bereiche und Funktionen der Klinik daraufhin abgeklopft, inwiefern es hier potenzielle Gefährdungen gibt. Im nächsten Schritt wurden die gewonnenen Erkenntnisse und neuen Regelungen den Beschäftigten vermittelt (3).

„Gemäß dem Arbeitsschutzgesetz haben nach dem TOP-Prinzip technische Maßnahmen Priorität vor organisatorischen Maßnahmen und diese wiederum vor personenbezogenen Maßnahmen. Für eine ganzheitliche Gewaltprävention sollten Maß­nahmen aller drei Ebenen ineinandergreifen“, sagt BGW-Expertin Claudia Vaupel. Zu technischen Maßnahmen gehören bspw. Schließ- oder Alarmierungssysteme sowie Informationen im Wartezimmer, die über die Gründe für lange Wartezeiten aufklären. Organisatorische Maßnahmen umfassen z. B. Notfallpläne oder Alarmierungsketten mit einem besonderen Augenmerk auf Zeiten, in denen nur wenig Personal vor Ort ist. Personenbezogene Maßnahmen wie Deeskalationstrainings sind zwar gegenüber technischen und organisatorischen Maßnahmen nachrangig, können aber besondere Wirkung entfalten. „Es kann immer mal eine Situation entstehen, in der man das Gefühl hat, die Stimmung könnte kippen“, sagt die Krankenpflegerin Claudia Plohmann. Sie hat eine Ausbildung zur Deeskalationstrainerin gemacht und schult nun selbst ihre Kolleginnen und Kollegen am BG Klinikum Duisburg. Plohmann vermittelt dabei Inhalte wie Kommunikationstechnik, Flucht- und Abwehrtechniken und Nachsorge. Die Ergebnisse seien gut. Im Kollegium habe dadurch ein Umdenken stattgefunden, das sich auch in Zahlen zeige: „Die Zahl der Übergriffe sinkt, seit das Deeskalationstraining Teil des allgemeinen Präventionskonzepts ist.“ 

Zu einem ganzheitlichen Konzept gehört die Nachsorge. „Sinnvoll ist die Erstellung eines Betreuungskonzepts inklusive Notfallplan“, so DGUV-Expertin Hannah Huxholl. „Darin wird u. a. geregelt, wie nach einem traumatischen Ereignis die Meldekette verläuft, wer sich um die betroffenen Kolleginnen und Kollegen kümmert und wie die Unfallmeldung beim zuständigen Träger erfolgt.“ Da die soziale Unterstützung unmittelbar nach dem Ereignis wichtig sei, sollte eine Betreuung der Betroffenen bereits im Betrieb bzw. am Unfallort sichergestellt werden, bspw. durch eine betriebliche psychologische Erstbetreuung. Auch von der BG oder UK könne man Unterstützung erhalten. „Über das Psychotherapeutenverfahren stellen wir sicher, dass Versicherte schnell professionelle Hilfe erhalten, wenn aufgrund eines Gewaltereignisses eine Traumafolgestörung droht.“ Wichtig sei dafür, dass der Betrieb seinen Unfallversicherungsträger informiere. „Das können Führungskräfte übrigens auch dann tun, wenn der Arbeitsunfall an sich nicht meldepflichtig ist“, so Huxholl (4).

Auch Krankenpflegerin Claudia Plohmann, die selbst einen Übergriff erlebt hat, hat dieses Erlebnis aufgearbeitet – u. a. durch eine Ausbildung als Deeskalationstrainerin: „Man sagt, dass hinter jeder Aggression eine Not des Patienten steht. Das hat mir geholfen.“ Die Pflegerin wünscht sich, dass die Gesellschaft bei Gewalt nicht wegschaut. „Das Motto ‚Ihr müsst das aushalten‘ ist keine Option. Wir sind Menschen und sind verletzbar. Wir müssen alle mehr aufeinander achtgeben.“

Wie häufig kommt es zu Gewalt bei der Arbeit?
Nach Einschätzungen vieler Krankenhäuser hat Gewalt gegen medizinisches oder pflegerisches Personal in den vergangenen Jahren zugenommen. Zu diesem Ergebnis kam im Frühjahr 2024 eine repräsentative Befragung des Deutschen Krankenhausinstituts. Vor allem die Notaufnahmen seien betroffen. Als eine der Hauptursachen nannten die befragten Kliniken einen allgemeinen Respektsverlust gegenüber Krankenhauspersonal, noch vor krankheitsbedingtem Verhalten wie Demenz. Lange Wartezeiten gaben rund 40 % der Befragten als Grund an (5).

Eine Umfrage der DGUV aus Dezember 2024 kam zu dem Ergebnis, dass das Gesundheits- und Sozialwesen überdurchschnittlich häufig von Gewalt betroffen ist. Danach gab fast die Hälfte der befragten Beschäftigten aus diesen Branchen an, in den vergangenen zwölf Monaten verbale Gewalt wie Beleidigungen bei der Arbeit erlebt zu haben – im Durchschnitt aller Branchen waren es etwas mehr als ein Drittel. Körperliche Übergriffe wurden deutlich seltener berichtet. Aber auch hier gaben Befragte, die im Gesundheits- und Sozialwesen tätig sind, deutlich häufiger (22 %) als der Durchschnitt (8 %) an, körperliche Gewalt erlebt zu haben. Am häufigsten waren Schubsen, Anspucken sowie Tritte und Schläge (6).

Sind Frauen und Männer unterschiedlich von Gewalt betroffen?
Für das Gesundheitswesen konnte die Umfrage der DGUV bei verbaler Gewalt keine großen Unterschiede feststellen – im Gegensatz zu anderen Branchen, in denen Frauen etwas häufiger als ihre männlichen Kollegen von verbaler und sexualisierter psychischer Gewalt berichten. Bei körperlicher Gewalt geben mehr Männer als Frauen im Gesundheitswesen an, Angriffe wie Schubsen sowie Schläge und Tritte erlebt zu haben. Dementsprechend gaben Männer auch deutlich häufiger als Frauen an, den Angriff bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft angezeigt zu haben (20 % vs. 7 %). Den Arbeitgeber oder die Führungskraft informieren Angehörige beider Geschlechter nach eigenen Angaben gleich häufig (6).

Die Kampagne #GewaltAngehen der gesetzlichen Unfallversicherung informiert unter www.gewalt-angehen.de über Prävention und Unterstützungsangebote für Betroffene.

Die BGW veranstaltet am 7. November 2025 ein Symposium zu Gewalt im Gesundheitswesen in Dresden. Die Teilnahme ist in Präsenz und online möglich. Weitere Informationen unter www.bgw-online.de/gewalt-symposium.


Stefan Boltz ist Pressesprecher bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV).

E-Mail: stefan.boltz@dguv.de

Literaturangaben:
  1. rbb (2025): Haftstrafen am Amtsgericht Tiergarten: Brüder müssen nach Angriff auf Arzt und Pfleger ins Gefängnis
  2. DGUV (2023): Grundverständnis von Gewalt bei der Arbeit/in Bildungseinrichtungen. In: Fachbereich AKTUELL. FBGIB-002
  3. UK RLP (2024): Klinikbeschäftigte für aggressive Übergriffe gewappnet. Unfallkasse Rheinland-Pfalz zeichnet Klinikum Worms mit Präventionspreis aus.
  4. DGUV (2024): Meldung von traumatischen Ereignissen. In: Fachbereich AKTUELL. FBGIB-004 
  5. Deutsche Krankenhausgesellschaft (2024): DKG zu Übergriffen auf Klinik-Beschäftigte: Krankenhaus-Personal deutlich stärker von Gewalt betroffen. 
  6. DGUV (2024): Gewalt bei der Arbeit bleibt eine Herausforderung: Aktuelle Umfrage der gesetzlichen Unfallversicherung zeigt Handlungsbedarf auf