Foto: Stiftung Dialog Ethik

„Die Freiheitsrechte für Pflegebedürftige müssen gelten – auch während einer Pandemie“

Einsamkeit in der Corona-Pandemie: Mit anderen Schweizer Ethiker:innen haben Sie einen Appell für die Langzeitpflege verfasst. Worauf basiert Ihre Argumentation?

Die Pandemie-Maßnahmen haben viele Menschen in Pflegeheimen und vergleichbaren Einrichtungen zum Alleinsein gezwungen. Alleinsein kann in Einsamkeit in der Isolation münden. In der ersten Welle sind viele Menschen ohne direkte Berührung und ohne Begleitung ihrer Angehörigen isoliert gestorben. Niemand von außerhalb durfte zu ihnen. Doch gerade demenzkranke Menschen können damit nicht umgehen und brauchen Berührungen. Alleinsein ist üblicherweise etwas, das man freiwillig wählt. Einsamkeit in der Isolation ist keine freiwillige Wahl. Sie wurde hier vom Gesetzgeber auferlegt. Insgesamt steht ein tiefer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte zur Debatte, und die Frage lautet: Ist er berechtigt?

Wie ist Ihre Einschätzung?

Menschen haben ein Recht auf eine individualisierte Abwägung. Selbst in einer Ausnahmesituation hätte eine rechtstaatliche Gesellschaft Möglichkeiten, diese zu gewährleisten, denn nach der Pandemie ist stets vor der Pandemie. Das Argument, jeder Tote ist ein Toter zu viel, ist problematisch. Wir Menschen sind sterblich. Zudem priorisieren wir nicht das nackte Überleben beim staatlichen Handeln. Das widerspricht dem Recht auf Selbstbestimmung. Jede urteilsfähige Person hat die Freiheit zur Selbstschädigung. Direkte Fremdschädigung ist verboten, beim Risiko der Fremdschädigung aber versuchen wir stets die Verhältnismäßigkeit zu wahren.

Können Sie das genauer erklären?


Der Staat lässt zum Beispiel das Autofahren zu, Tabakwerbung, Fehlernährung ... Demgegenüber haben wir ein Tötungsverbot, welches der Staat durchsetzt. Auch das Unterlassen von lebenserhaltenden Maßnahmen kann „fahrlässige Tötung“ sein, etwa wenn wir das ertrinkende Kind in der Badewanne nicht retten. Die Frage ist, ob die Schwere der Pandemie und das aktuelle Ansteckungsrisiko massive Eingriffe in die Grundrechte rechtfertigen. Das Gebot, Individuen vor Gesundheitsgefährdungen zu schützen, ist immer eingebettet in den Schutz der Persönlichkeit, respektive die Werte und Interessen der Person. Darum sagen wir Medizinethiker:innen, dass es nicht angeht, Gruppen von Menschen abzuschotten und ihnen oftmals sogar den Zugang ihrer Nächsten oder Rechtsvertreter:innen vorzuenthalten.

Was fordern Sie als Konsequenz?


Die verfassungsmäßigen Freiheitsrechte der Bewohner:innen von Einrichtungen der Langzeitpflege müssen gewährleistet sein – unter Einhaltung der Schutzstandards und unter Vor­lage entsprechender Schutzkonzepte. Engen Angehörigen und Bezugspersonen sowie gesetzlichen Vertretungspersonen und Beiständen ist der Zugang zu urteilsunfähigen Personen zu gewähren unter Beachtung der allgemeinen Schutzstandards. Jeder Mensch muss selbst entscheiden können, ob er das Risiko, an Corona zu erkranken und eventuell daran zu sterben, auf sich nimmt – sofern er entscheidungsfähig ist. Die Gesellschaft, hier besonders die Pflegeheime, müssen durch ihr Schutzkonzept die Voraussetzungen schaffen.

Betrachtet man die Langsamkeit in der Pandemie, etwa bei den Schnelltests, scheint das nicht selbstverständlich.

Darum enthält unser Appell auch Vorschläge, aus dem bisheri­gen Verlauf der Pandemie zu lernen. Corona hat wie ein Brennglas die strukturellen Missstände in der Pflege ans Licht gebracht. Diese müssen wir angehen. Es ist bezeichnend, dass Palliative Care unterfinanziert ist und Sterbende oftmals fehlbehandelt werden. Langzeiteinrichtungen geraten hier an ihre Grenzen, weil ihnen oft die Mittel und ausgebildetes Personal fehlen. Würdiges Sterben braucht ausreichende Ressourcen.

Interview: Alexandra von Knobloch

Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle ist Leiterin des „Interdiszipli­nären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen“ der Stiftung Dia­log Ethik in Zürich, Schweiz. In ihrem Vortrag wird sie das Thema „Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität bei der Pandemiebekämpfung“ vertiefen.

E-Mail: rbaumann@dialog-ethik.ch