Foto: Jochen Rolfes

Editorial

Liebe Mitglieder im Deutschen Ärztinnenbund,

vor mehr als 100 Jahren beschlossen einige Ärztinnen und Zahnärztinnen, dass es Zeit sei, sich als Kolleginnen beruflich gezielt zu unterstützen. Am 25. Oktober 1924 gründeten sie den Bund Deutscher Ärztinnen (BDÄ) und legten damit den Grundstein für unser heutiges Netzwerk, den Deutschen Ärztinnenbund.

Ein solches Datum ist immer auch ein Grund, auf die Geschichte zu schauen: Wo kommen wir her und was hat sich verändert? Gerade bei uns in Deutschland ist der Blick zurück auch ein Blick in eine Zeit, die uns heute mit Grauen erfüllt. Waren doch zu viele Kolleginnen entweder Mitläuferinnen des NS-Regimes oder einfach zu still. Gerade heute wissen wir, dass wir laut sein müssen. Weil „Nie wieder“ gerade jetzt so aktuell erscheint, wird sich der Deutsche Ärztinnenbund in seiner Mitgliederversammlung am Tag nach dem Jubiläum mit einer Erklärung zu Freiheit und Demokratie befassen.

Weil die NS-Zeit für die Ärztinnen im BDÄ keine ruhmreiche Zeit war – und auch, weil wegen der durch die Reichsärzteverordnung erzwungenen Auflösung eine zeitliche Lücke klafft –, feiern wir nicht den 100. Geburtstag, sondern wir feiern den 100. Gründungstag unseres Vorgängerverbandes. Sowohl die Gründung 1924 des BDÄ als auch die Neugründung 1950 dann als Deutscher Ärztinnenbund wurden motiviert und unterstützt durch den internationalen Ärztinnenbund „Medical Women’s International Association“ (MWIA), deren Mitglied wir damals waren und heute sind. Die MWIA hat zudem die Brücke geschlagen, weil sie während des NS-Regimes Kolleginnen außerhalb von Deutschland motiviert hat, geflüchtete Ärztinnen aufzunehmen und zu unterstützen.

Seither und seit der Neugründung hat sich für die Ärztinnen und Zahnärztinnen sehr viel verändert. Um die Zukunft zu gestalten, müssen wir die Vergangenheit kennen und analysieren. Vergangenes vor dem Vergessen zu bewahren – auch dafür sind „100 Jahre“ ein Anlass. Selbst erstaunt war ich beispielsweise über den Weitblick der Vorgängerinnen im Vorstand, die schon 1981 einen Kongress zum Thema Gendermedizin organisiert hatten. Und das inzwischen fast als Slogan eingesetzte „Frauenherzen schlagen anders“ war als Frage formuliert schon 1999 Kongress­thema des DÄB. Inzwischen ist die allgemeine Gesellschaft an der geschlechterdifferenzierten Medizin interessiert.

An dieser Stelle möchte ich unsere Betroffenheit ausdrücken, dass Ute Otten das Jubiläum nicht erleben kann. Sie war schon 1981 im Vorstand und von 1993 bis 1997 Präsidentin, Ehrenpräsidentin und langjährig aktive Unterstützerin des DÄB. Sie verstarb nach langer Krankheit, jedoch bis zu ihrem Ende extrem mit dem DÄB verbunden, am 22. August dieses Jahres.

Viel hat sich verändert. Viel bleibt zu tun. Ärztinnen in Führungspositionen sind immer noch ein Thema des DÄB, auch wenn Ärztinnen in den Stellvertreterpositionen oder in den oberärztlichen Stellen inzwischen gut vertreten sind. Die gläserne Decke darüber muss noch durchstoßen werden. Hierzu ist es notwendig, gesamtgesellschaftliche Konditionen so zu verändern, dass Rollenstereotype endlich aufgelöst werden und Care-Arbeit eine gleichberechtigte Aufgabe von Frauen und Männern wird. Parität in Führungspositionen ist nur möglich, wenn wir auch die Familienarbeiten paritätisch verteilen können.

Mit Stolz auf alle Ärztinnen, die über die vergangenen 100 Jahre den Verband lebendig gehalten und die dafür gesorgt haben, dass all die wichtigen Themen für Ärztinnen und Patientinnen auch als wichtig wahrgenommen werden und wurden, schaue ich mit großer Dankbarkeit zurück. Dankbar bin ich in der Gegenwart auch für die vielen aktiven Ärztinnen, die den DÄB tragen und ausmachen, und für die wunderbare Teamarbeit im Vorstand, und ich freue mich, dass ich zu diesem Zeitpunkt den DÄB als Präsidentin begleiten darf.

Ihre

Dr. med. Christiane Groß, M.A.,
Präsidentin des DÄB