Steffen Kugler/Bundespresseamt

„Es fehlt oft an klaren Verfahren und Möglichkeiten, Diskriminierung auch zu ahnden“

Frau Ataman, welche Patient:innen-Gruppen erleben im Gesundheitswesen Diskriminierungen?

Menschen im Gesundheitsbereich leisten tagtäglich unfassbar wichtige Arbeit. Dass es hier Diskriminierungen geben kann, ist erst mal kaum vorstellbar. Aber wie in jedem anderen Bereich, wo sich Menschen begegnen, kommt es auch hier zu Diskriminierungen. Wir wissen aus unserer Beratung, dass Patient:innen etwa wegen ihrer Behinderung, aus rassistischen Gründen oder aufgrund ihres Geschlechts schlechter behandelt werden. Gerade beim Geschlecht ist wichtig zu wissen, dass sich Krankheitsbilder bei Frauen und Männern unterscheiden können – zum Beispiel beim Herzinfarkt. Bei Frauen wird der Infarkt seltener festgestellt und das kann schlimmstenfalls tödlich enden. Bei migrantischen Frauen, die über Schmerzen klagen, wird leider noch immer „Morbus Mediterraneus“ diagnostiziert. Das ist keine medizinische Diagnose, sondern ein rassistisches Klischee von wehleidigen Migrantinnen. Auch ältere Patient:innen berichten uns immer wieder davon, dass sie nicht ernst genommen werden und ihnen bestimmte Behandlungsformen verwehrt werden. Nur aufgrund des Alters. Das sind nur einige Beispiele für Diskriminierungen, die Menschen im Gesundheitswesen erleben.

Inwiefern spielt Mehrfachdiskriminierung eine Rolle?


Als Schwarze Frau kann eine Patientin mehrere Diskriminierungen gleichzeitig erleben – aus rassistischen Gründen und wegen des Geschlechts. Leider sind Schwarze Patientinnen besonders oft sexualisierten Vorurteilen ausgesetzt. Ärzt:innen bieten ihnen zum Beispiel ungefragt HIV-Tests an. Bei muslimischen Frauen wird dagegen oft angenommen, dass sie ihre Sexualität unterdrücken. Deshalb werden sie seltener auf Geschlechtskrankheiten untersucht.

Existiert für intersektionale Diskriminierungszusammenhänge bereits ein Bewusstsein in der Medizin?


Leider fehlt größtenteils noch das Bewusstsein in der Medizin. Das haben wir auch in unserer Studie „Diagnose Diskriminierung“ festgestellt. Wir wollten herausfinden, was passiert, wenn sich Menschen nach einer Diskriminierung im Gesundheitswesen an eine Anlaufstelle wenden. Die gute Nachricht: Es gibt bereits einige Beschwerdestellen im Gesundheitsbereich. Aber leider ist der Schutz vor Diskriminierung dort oft noch ein blinder Fleck. Viele Betroffene bekommen kaum Unterstützung. Auch haben noch lange nicht alle Ärztekammern in den Ländern Ansprechpersonen gegen Diskriminierung.

Wie entwickelt sich die Diskriminierungssituation nach der Erfahrung der Antidiskriminierungsstelle?

Diskriminierungen können schon vor der Behandlung anfangen – etwa für Patient:innen im Rollstuhl. Leider sind viele Praxen in Deutschland nicht barrierefrei. So kann der Arztbesuch schnell zum Alptraum werden. Zum Beispiel, wenn Rollstuhlfahrerinnen zu einer ganz normalen Routineuntersuchung zum Frauenarzt müssen. Dann müssen sie oft lange nach einer barrierefreien Praxis suchen, die auch einen Hebelift hat. Denn ohne kommen viele nicht auf den Untersuchungsstuhl.

Die Diskriminierung kann sich auch von Patient:innen gegen Ärzt:innen richten. Beispielsweise, wenn sie generell nicht von ausländischem Medizinpersonal untersucht werden wollen, sich rassistisch äußern oder sich vor allem gegenüber weiblichem Fachpersonal sexistisch verhalten. Und dann kann es auch unter Ärzt:innen oder Pflegepersonal zu Diskriminierungen kommen. Sexuelle Belästigung ist hier ein sehr großes Thema. Wir wissen aus einer großen Befragung zu Belästigung am Arbeitsplatz, dass die Gesundheitsbranche die Branche mit dem höchsten Risiko ist. Ein Drittel aller befragten Frauen, die Belästigung im Job erlebt hatten, hat sie im Gesundheitswesen erlebt. Es kommt zum Beispiel vor, dass Chefärzte Ärztinnen oder Pflegerinnen sexuell belästigen, aber auch unter Kolleg:innen oder Patient:innen kann es dazu kommen.

Sie weisen in Ihrer Studie darauf hin, dass sich viele Patien­t:innen nicht gegen Diskriminierung wehren, weil sie Sorge haben, sonst gar nicht oder schlecht behandelt zu werden. Was muss sich ändern?

Menschen, die medizinische Einrichtungen besuchen, sind oft besonders verletzlich. Sie haben Angst davor, krank zu werden oder sind durch Krankheiten erschöpft und eingeschränkt. Erleben Menschen in so einer Situation auch noch Diskriminierung, schwächt sie das zusätzlich. Im schlimmsten Fall kann es dazu führen, dass sie dadurch eine bestimmte Praxis oder sogar das ganze Gesundheitssystem meiden. Deshalb brauchen sie bessere und vor allem sichtbare Beratung. Die Stellen müssen die Belange der Patient:innen ernst nehmen und professioneller mit Diskriminierungen umgehen. Denn obwohl es Unterstützungsangebote gibt, fehlt es oft an Wissen über Diskriminierungen im Gesundheitswesen und an klaren Verfahren und Möglichkeiten, Diskriminierung auch zu ahnden. Das kann für diskriminierte Patient:innen krasse Folgen haben. Sie dürfen nicht im Stich gelassen werden.

Welche Strategien könnten die Medizin selbst weniger dis-
kriminierend machen?


Studien zeigen, dass der Umgang mit Diskriminierungen im Studium und in der medizinischen Ausbildung kaum eine Rolle spielt. Deshalb sollte dies bereits Teil der medizinischen Lehre an der Uni oder in der Ausbildung sein. Außerdem sollte das Bewusstsein für Diskriminierungen gestärkt werden und Lösungsansätze für den Umgang erarbeitet werden. Ein gutes Beispiel ist die Charité in Berlin, die als erste deutsche Universitätsklinik Präventions- und Schutzstrategien gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz auf den Weg gebracht hat.

Ferda Ataman ist Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung und Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Sie wurde im Juli 2022 vom Bundestag für 5 Jahre in dieses Amt gewählt. Zuvor war die Politikwissenschaftlerin als Unternehmensberaterin zu Fragen von Diversität und Anti­diskriminierung und publizistisch tätig.

Kontakt: www.antidiskriminierungsstelle.de