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„Frauen werden vorgeführt, Fehler werden ihnen stärker nachgetragen“

Ungleichbehandlung von Frauen und Männern im Medizinstudium? Dazu gibt es in Deutschland bislang fast keine wissenschaftlichen Erhebungen. 2024 ist eine hinzugekommen. Sie belegt: Vor allem Frauen erleben während ihrer Ausbildung die ganze Bandbreite geschlechtsbezogener Diskriminierung – so viel, dass es ihre Fächerwahl beeinflusst.

Frau Stock, in Ihrer Doktorarbeit haben Sie die Auswirkungen von Diskriminierungserfahrungen auf Medizinstudierende erforscht. Was waren die wichtigsten Erkenntnisse?

Genderdiskriminierung ist an medizinischen Fakultäten sehr verbreitet. Sie betrifft Frauen und Männer, aber Frauen in einem deutlich höheren Maß als Männer. Das ist ein zentraler Befund, wenn auch keiner, der uns überrascht hätte. Es gab zu diesem Thema in Deutschland zuvor lediglich eine Pilotstudie von 2020. Darin hatte sich die Größe des Problems aber schon abgezeichnet. Ein Kernergebnis unserer Erhebung war ein Zusammenhang zwischen Diskriminierungserfahrungen und der gewählten Fachrichtung. Dieser trägt zum Beispiel dazu bei, dass Frauen Chirurgie wenig attraktiv finden und eine andere Fachrichtung wählen, etwa Gynäkologie. Dieses Beispiel ist besonders markant, denn von den Arbeitsanforderungen her bestehen zwischen Gynäkologie und Chirurgie recht hohe Überschneidungen. Dennoch nehmen viele angehende Ärztinnen die Fächer unterschiedlich wahr – und das liegt offenbar teilweise an Sexismus-Erfahrungen im Studium.

Was widerfährt den Studentinnen?


Wir haben die Diskriminierungsformen in Kategorien abgefragt. Ganz oben stehen sexistische Sprüche und Witze, dicht gefolgt von abwertenden Ansprachen. Drei von vier Medizinstudentinnen müssen sich Komplimente anhören, die sie als unangenehm empfinden und 5,7 Prozent berichteten von sexuellen Übergriffen. Die meisten Diskriminierungserlebnisse entstehen im Kontakt mit Patient:innen. Das sind dann oft sogenannte Mikroaggressionen. Beispielsweise, dass sie einer Ärztin die Kompetenz absprechen, indem sie fragen, ob sie eine Entscheidung überhaupt treffen dürfe. Beruflich gravierend wird es, wenn eine Person, die beispielsweise gerne im Operationssaal steht, am Ende etwas anderes macht, weil sie sich der Situation in dem Fach nicht länger aussetzen möchte.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?


Nicht aus der Studie, aber unter Studierenden wird über sexistische Erfahrungen natürlich gesprochen. Es berichtete mir zum Beispiel eine Ärztin in Weiterbildung, der Arzt, der eine OP leitete, habe noch vor Beginn des Eingriffs gesagt: „Holt den PJler, um das Bein des Patienten zu halten. Sie ist zu schwach.“ Das ist ein Fall, in dem eine Frau vorgeführt und vorverurteilt wurde, weil sie eine Frau ist. Ebenso typisch ist es, dass Fehler von Frauen strenger beurteilt werden als von Männern. Ihre Eignung wird grundlegender angezweifelt.

Wie kann so ein System Bestand haben?


Es liegt zu einem Teil am extrem hierarchischen System in der Medizin. Der nächste Karriereschritt ist von der Bewertung einer – oder meist eines – Vorgesetzten abhängig. Das erschwert es, sich vor allem gegen Mikroaggressionen zur Wehr zu setzen. Sagt man „Dieser Kommentar ist unangemessen, das passt mir nicht“? Oder schweigt man, weil man Nachteile fürchtet, wenn man Diskriminierung thematisiert?

Wie ließe sich die Situation verbessern?


Wie in allen anderen Branchen auch, muss der Wandel von oben nachvollzogen werden, um sich durchzusetzen. Die Medizin benötigt unter anderem mehr Frauen in Führungspositionen, die eine andere Kultur verkörpern und Vorbilder abgeben. Es muss aber auch die ganze Institution, etwa das ganze Krankenhaus, ernsthaft für Gleichberechtigung einstehen. Ebenso wichtig: Schon an der Universität müsste an vielen Stellen deutlich werden, dass Diskriminierung – und nicht nur die geschlechtsbezogene – in der Medizin keinen Platz hat.

Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass sich etwas ändert?

Mein Eindruck ist, dass jede Form von Diskriminierung inzwischen in der Gesellschaft stärker wahrgenommen wird als noch vor ein paar Jahren. Gerade in der Medizin ist der Frauenanteil inzwischen so hoch, dass eine Reaktion erfolgen muss. Außerdem wächst der wirtschaftliche Druck. Wenn man Ärztinnen nicht insgesamt oder in bestimmten Fächern verlieren möchte, gehört das – auch strukturelle – Vorgehen gegen genderbasierte Diskriminierung dazu.

Interview: Alexandra von Knobloch

Jule Stock studiert Medizin an der RWTH Aachen und absolviert gerade ihr Praktisches Jahr. Aus ihrer Doktorarbeit, betreut von der Professorin für Arbeits- und Sozialmedizin Dr. med. Andrea Kaifie-Pechmann, ging dieses Jahr eine Veröffentlichung in „BMC Medical Education“ hervor: “The effects of gender discrimination on medical students‘ choice of specialty for their (junior) residency – a survey among medical students in Germany”.

E-Mail: jule.stock@rwth-aachen.de