Foto: © St. Bernhard-Hospital Kamp-Lintfort

Im Interview: „Wir brauchen eine viel bessere Kinderbetreuung an Kliniken“

Lediglich 22,4 Prozent der berufstätigen Chirurg:innen in Deutschland sind Frauen, besagt die Statistik der Bundesärztekammer für 2020. Zugleich mangelt es dem Fachgebiet an Nachwuchs. Wie bewerten Ärztinnen die Situation? Dieser Frage ist Dr. Hülya Pustu während ihrer Promotion nachgegangen.

Sie haben die Karrierewünsche und -chancen von Chirurginnen der Allgemein- und Viszeralmedizin – in NRW – untersucht. Was hat Sie am meisten überrascht?

68,5 Prozent der 125 – teilweise angehenden – Chirurginnen, die an der Befragung teilgenommen haben, wollen eine Führungsposition erreichen, also mindestens Oberärztin werden, und zugleich wollen sie Kinder haben. Die Chirurgie gilt als Fach, in dem sich Familie und Karriere schlecht vereinbaren lassen. Ich hätte erwartet, dass sich das in den Erwartungen junger Ärztinnen niederschlägt.

Wie erklären Sie sich, dass es nicht so ist?


Ich kann nur Vermutungen anstellen. Womöglich sind viele junge Ärztinnen optimistisch, was die Vereinbarkeit angeht, weil sie an den großen Kliniken der Maximalversorgung einen Wandel sehen. Dort existieren Kitas, die es den Frauen erlauben, ihre Kinder nahe bei der Arbeitsstätte unterzubringen. Manche sind rund um die Uhr geöffnet. Bei so einem Angebot kann eine Chirurgin den Ansprüchen des Berufs leichter gerecht werden. Leider ist so eine gute Kinderbetreuung aber noch keineswegs Normalität.

Was ist das Problem, wenn die Kinder nicht unmittelbar am Arbeitsplatz betreut werden?


Weite Wege und folglich lange Fahrzeiten und strikte Abholzeiten bringen Frauen in der Chir­urgie in Bedrängnis. Wollen sie trotzdem beruflich so verfügbar sein, wie es männliche Kollegen immer noch ganz selbstverständlich sind, brauchen sie familiäre Unterstützung bei der Kinderbetreuung. Das macht Frauen abhängig. In unserer Umfrage wird deutlich, dass die Ärztinnen bei der Kindesbetreuung vor allem von öffentlichen oder privaten Einrichtungen abhängig sind. Nur ein geringer Anteil wird durch Partner:innen unterstützt.

Sie bewerten die Ist-Situation negativer als die Mehrheit der Teilnehmerinnen in Ihrer Untersuchung. Warum?


Ich habe in der Schweiz gelebt und gearbeitet. Dort ist die
Kinderbetreuung besser geregelt. In Deutschland gibt es noch viel zu tun. Nicht umsonst haben die männlichen Chirurgen auf meinem Ausbildungsstand hier oft Kinder, die Chirurginnen kaum. Die Väter fallen auch seltener aus. Das ist für mich ein Zeichen, dass Wunsch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Außerdem ist davon auszugehen, dass an meiner Untersuchung vermehrt Ärztinnen teilgenommen haben, die ihre Arbeitsbedingungen als passabel erleben. Einige durften nicht teilnehmen. Es gibt einen gewissen Bias.

Was würde aus Ihrer Sicht eine Änderung forcieren?


Momentan ist die Chirurgie noch nicht frauenfreundlich, man kann sich als Frau nur anpassen. Damit sich das rasch ändert, müsste meines Erachtens jeder ärztliche Verband, in dem Frauenstimmen gehört werden, darauf dringen, an jeder Klinik die Kinderbetreuung zu optimieren. Ich vermute auch, dass sich die jungen Frauen, die sich in meiner Untersuchung Beruf und Karriere wünschen, für bessere Bedingungen einsetzen. Aber das ist erst die kommende Generation.

Interview: Alexandra von Knobloch

Dr. med. Hülya Pustu hat 2021 promoviert. Sie arbeitet im St. Bernhard-Hospital in Kamp-Lintfort als Fachärztin für Visze­ralchirurgie. Ihr Chefarzt dort war auch ihr Doktorvater.

E-Mail: Huelya.Pustu@st-bernhard-hospital.de