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Karriere ... oder doch Care?

Ärztin
19.12.2024

Warum die Pflege von Angehörigen für Ärztinnen ein gesundheitliches und berufliches Risiko birgt und warum Unternehmen mit starken Programmen zur „Work-Life-Balance“ erfolgreicher sind.

Ein Schlaglicht aus meiner eigenen Geschichte: Die beste Freundin meiner 84-jährigen Mutter erzählt ihr von Susanne (Name geändert; Anm. d. Red.) – der Tochter einer anderen Freundin. Sie habe gesagt: „U N S E R E Mama kommt nicht ins Heim!“ Susanne lebt mit ihrem Ehemann und ihrer Mutter zusammen in ihrem Elternhaus. Die beste Freundin meiner Mutter sagt auch, dass wir uns doch „eine Polin nehmen“ könnten. Zum Zeitpunkt des Gesprächs wohne ich (damals 56) seit gut drei Monaten wieder in meinem Jugendzimmer im Haus in dem Dorf, in dem meine Mutter bisher allein lebte. Inzwischen kommt meine Mutter so nicht mehr zurecht. Seit vier Jahren schreitet ihre Demenz voran.

Die Möglichkeiten einer Betreuung aus der Ferne hatten wir in den letzten vier Jahren ausgereizt: Hausarztpraxis, Menüdienst, Pflegedienst, Haushaltshilfe, Gartenhelfer, Nachbarinnen und Mutters beste Freundin haben geholfen. Ich kenne alle Raststätten zwischen München und Frankfurt. Jetzt bin ich in Pflegezeit. Die Miete für meine 500 Kilometer entfernte Wohnung wird aus meinen Ersparnissen bezahlt, den Alltag finanzieren wir von Mutters Rente. Wenn ich ein Wochenende in mein eigenes Zuhause fahren möchte, um etwas zu erledigen, meinen Partner und seinen Enkel zu sehen, plane ich genau, wer wann nach Mutter sieht.

Ich versuche nachzuzählen, wie viele Haustürschlüssel zu meinem Elternhaus in den letzten vier Jahren in Umlauf gegangen sind. Waren es 5 oder 7? Es lässt sich nicht klären. Bin ich mal nicht da, passieren Grenzüberschreitungen. Die Mieterin meiner Mutter versucht auf sie einzuwirken. Mich empört das. Doch die Referentin im Angehörigen-Kurs der Alzheimer Gesellschaft, den ich besuche, sagt, es sei „ganz normal“, was sich da im Umfeld meiner Mutter abspielt. Es nicken auch alle. „Demenzkranke sind hilflos“, sagt die Referentin. Das provoziere Übergriffe und: nein, es sei nicht sinnvoll, eine Pflegerin zu einer alleinlebenden demenzkranken Person ins Haus zu holen, wenn man selbst als Angehöriger mehr als 20 Kilometer entfernt wohnt. Wie gesagt: „Demenzkranke sind hilflos.“

Mein Kollege ruft an: Seine 90-jährige Mutter lebt allein in einem Haus. Er wohnt 90 Kilometer davon entfernt. Er macht sich große Sorgen und fährt fast jeden Tag nach dem Dienst zu ihr. Er fühlt sich müde, zugleich sind Pflegezeit oder Arbeitszeitreduktion für ihn undenkbar. Seine Frage an mich heute lautet schlicht, ob er mich ab September wieder im Dienstplan berücksichtigen könne. Ich spüre den Zeitdruck, wieder zu arbeiten. Das Pflegezeitgesetz sieht eine 6-monatige Pflegezeit ohne Bezüge vor. Währenddessen kann man freiwillig in die Rentenkasse einzahlen. Doch wer kann sich das schon im vollen Umfang oder überhaupt leisten? Neben den akuten Einkommenseinbußen in der Pflegezeit entsteht darum für viele eine Lücke in der Rentenversicherung.

Situation in Deutschland


92 Prozent der Dreijährigen besuchen eine Kita. Das wird inzwischen gesellschaftlich positiv beurteilt und gefördert. Zugleich werden 75 Prozent der Pflegebedürftigen in Deutschland zu Hause betreut. Die gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen, die Versorgung ihrer Angehörigen und die ihres Ehemannes zu übernehmen, sind hoch. Sie orientieren sich an dem 1950er-Ideal einer Tochter oder Schwiegertochter. „Du machst das doch gerne“, heißt es. Und: „Schau, du bekommst doch emotional so viel zurück.“

Das ist aber nur die halbe Wahrheit: Studien zeigen, dass die Langzeitpflege von Angehörigen zu großem körperlichen und starkem psychosozialen Stress führt. Langzeitpflegende erleben negative gesundheitliche Auswirkungen, eine verringerte Lebensqualität und sie haben geringe Indikatoren für Glück – sogar wenn sie die Pflege als wichtig und bereichernd empfinden. In Deutschland gibt es etwa 300 000 bis 400 000 Personen aus Osteuropa, die in den Haushalten leben, in denen sie Pflegebedürftige versorgen. Die allermeisten sind Frauen. In wissenschaftlichen Untersuchungen ist von „Live-Ins“ die Rede. Rechnet man deren Stundenlöhne auf die 24-h-Betreuung um, sind sie lächerlich gering. Die eigenen Familien dieser Live-Ins sind in der Heimat sich selbst überlassen.

Live-Ins unterstützen häufig pflegende Angehörige bei der Versorgung, wenn diese nicht in der Nähe wohnen. „Long-distance caregivers“ heißen diese Betreuenden. Es sind vornehmlich gut ausgebildete Töchter und Schwiegertöchter, die neben Besuchen organisatorische, koordinierende und emotionale Leistungen erbringen. Long-distance caregivers sind häufig finanziell, emotional und physisch belastet, etwa durch häufige lange Fahrten zu den Angehörigen.

Frauen zwischen 50 und 64


Gerade wenn die Karriere laufen sollte, werden die Eltern pflegebedürftig, der Partner braucht „einen freien Rücken“, Kinder oder schon erste Enkel benötigen Betreuung. Plötzlich geben Frauen Interessen auf, reduzieren die Arbeitszeit, der nächste Karriereschritt bleibt aus, in die Rentenversicherung wird weniger eingezahlt, so dass der Gender-Pay-Gap dem Gender-Pension-Gap folgen wird. Unternehmen, Kliniken und Praxen verlieren ihre besten Führungskräfte an die Familienarbeit, in einem Alter, in dem Frauen eigentlich mehr und mehr Verantwortung am Arbeitsplatz übernehmen. Die wirtschaftlichen Verluste dadurch gehen in die Milliarden.

Es ist und bleibt ein Problem: Unbezahlte Care-Arbeit wird überwiegend von Frauen geleistet. Das BMFSFJ gibt den Gender-Care-Gap mit 44,3 Prozent an. Basis ist die Zeitverwendungserhebung von 2022. Diese Zahl bezieht sich jedoch auf die Care-Arbeit in allen Lebens­phasen. Aussagekräftiger sind die Zahlen des European Institute for Gender Equality. Es stellt fest, dass vorwiegend Frauen im Alter zwischen 50 und 64 Jahren über längere Zeiträume hinweg pflegen: die Long-term informal carers .“We are losing our best leaders to caregiving”, sagt Shelley Zalis.

Die Situation für Ärztinnen


Die Erhebung „Medical Women on Top“ (MWoT) 2022 des DÄB und viele internationale Studien zeigen, dass mit jedem Karriereschritt der Anteil der Ärztinnen auf dieser Stufe kleiner wird. Obwohl 37 Prozent der Oberärzte Frauen sind und damit ein riesiger Pool von qualifizierten Ärztinnen vorhanden ist, um die vergleichsweise wenigen wirklichen Toppositionen zu besetzen, bleibt der Frauenanteil an der Spitze mit 13 Prozent sehr gering. Die Ursachen dieser Unterrepräsentanz sind vielfältig.

„Aus dem Kreis der universitären Gleichstellungsbeauftragten wird über eine dünne Bewerberinnenlage berichtet. Wahrscheinlich, so eine Vermutung, würden Frauen auf eine Bewerbung eher verzichten, wenn sie keine guten Arbeitsbedingungen vorfinden. Außerdem sprächen Ausschreibungstexte immer noch deutlicher Männer an und beinhalteten die unausgesprochene Forderung nach Selbstausbeutung.“ Das schreibt Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk in der Auswertung der MWoT.

Vor mehr als einem Jahr haben wir als Deutscher Ärztinnenbund mit drei Anträgen beschlossen, Care-Arbeit sichtbar zu machen und Strategien zu entwickeln, wie Care-Arbeit nicht zur Bremse im sozialen Leben und der Karriere von älteren Ärztinnen werden muss.

Das Forum 40 plus des Deutschen Ärztinnenbundes hat das Thema „Pflege von Angehörigen“ als eines der Tabu­themen unserer Zeit identifiziert und möchte sich dessen annehmen, wie Dr. med. Regina Strüber, Vorsitzende des Forum 40 plus, mir mitgeteilt hat. Ein wichtiges Ziel sei es, für das Thema eine Öffentlichkeit zu schaffen und Netzwerke zu bilden. Das Forum 40 plus beabsichtigt außerdem darauf aufmerksam zu machen, welche enormen finan­ziellen Belastungen die Pflege von Angehörigen mit sich bringen kann, wenn etwa die Arbeitszeit reduziert oder Pflegezeit genommen wird.

Jede Menge Änderungsbedarf

Studien zeigen, dass in Ländern, in denen mehr für das formelle Pflegesystem ausgegeben wird, der Gender-Care-Gap geringer ist. Zugleich ist in Ländern mit einer generell größeren Geschlechterungleichheit und einer stärkeren Ungleichheit in der Erwerbsbeteiligung auch der Gender-Care-Gap zwischen Männern und Frauen tendenziell größer. Der Berechnung des Gender-Care-Gap durch das BMFSFJ liegen alle Care-Zeiten im Lebenslauf zugrunde, die Versorgung von Kindern wird in der Erhebung explizit aufgelistet, die Versorgung von pflegebedürftigen oder sterbenden Angehörigen wird jedoch nur sehr pauschal betrachtet. Es wäre daher sinnvoll, wenn sich der DÄB dafür einsetzen würde, die Pflege von Angehörigen und die Sterbebegleitung in zukünftigen Zeitverwendungserhebungen aufgeschlüsselt zu berücksichtigen. Denn diese Care-Arbeit ist Lebensrealität für Frauen – und somit für uns Ärztinnen.

Das aktuelle Pflegezeitgesetz sieht eine 6-monatige Pflegezeit ohne Bezüge vor. Zusätzlich besteht ein Anspruch auf eine Freistellung zur Begleitung Sterbender. Die Pflegezeit und die Freistellung können auch in Teilzeit in Anspruch genommen werden. Ein Anspruch auf Freistellung besteht für Arbeitnehmer:innen in Betrieben mit mehr als 15 Mitarbeiter:innen. Ein Entgelt gibt es nicht. Insgesamt ist in der familiären Pflege nur an den wenigsten Stellen eine Entlohnung vorgesehen. Wenn Care-Arbeit vom Gesetzgeber umfassend verstanden wird, gibt es aber keinen vernünftigen Grund, den finanziellen Ausgleich in dieser Zeit anders zu regeln als während der Elternzeit! Wenn Frauen gerade im mittleren Lebensalter Einkommensverluste hinnehmen, wirkt sich das negativ auf die Gesamtwirtschaft, auf die Rentenkassen und die Qualität der Pflege aus. Gerade für Ärztinnen, die selbstständig sind oder in Praxen mit weniger als 15 Mitarbeiter:innen arbeiten, wäre eine umfassende Regelung im Pflegezeitgesetz hilfreich. Dafür setzt sich der DÄB ein.

Es ist erstrebenswert, dass Menschen in ihrem häuslichen Umfeld gepflegt werden können. Dazu sind Unterstützungssysteme wie Tagespflege, mobile Pflegedienste und Haushalthilfe auszubauen. Auf Live-Ins aus anderen Ländern wird in nächster Zukunft nicht verzichtet werden können; die Bezahlung und die Arbeits- und Lebensbedingungen für diese Frauen, die ihre Familien zurücklassen, müssen daher adäquat sein. Der Ausbau von Kurzzeitpflege, auch für Notfälle – etwa bei Ausfall der pflegenden Angehörigen oder Live-Ins – oder bei einer gesundheitlichen Verschlechterung, die im häuslichen Umfeld nicht zu bewältigen ist, ist dringend erforderlich. Ebenso notwendig: die Verpflichtung, in Pflegehei­men gut ausgebildetes und adäquat bezahltes Pflegepersonal in ausreichender Anzahl zu beschäftigen. Die auf jede Frage passende Antwort „Weiß nicht, bin Zeitarbeit“ sollte keine Angehörige im Heim mehr hören müssen!

Aufgaben für die Wirtschaft


Die Care-Arbeit über die gesamte Lebensspanne ist ein Wirtschaftsfaktor: Nicht umsonst verzeichnen Unternehmen mit starken Programmen zur „Work-Life-Balance“ weniger Kündigungen, dafür höhere Produktivität und engagiertere Mitarbeiter:innen. Es ist in unser aller Sinne, dass Gesetzgeber und Unternehmen besonders ihre leistungsstarken Mitarbeiterinnen in den mittleren Jahren in den Fokus nehmen. Unternehmen müssen erkennen, dass sie ihre Produktivität steigern, wenn sie es ihren Mitarbeiterinnen ermöglichen, der aktuellen Lebenssituation entsprechend zu arbeiten. Die junge Familie, die ihre Elternzeit nicht voll ausschöpft, weil sie große Unterstützung von der Herkunftsfamilie hat, kann in echte Bedrängnis geraten, wenn jemand aus diesem privaten Netzwerk plötzlich pflegebedürftig wird. Ein Lebensarbeitszeitkonto wäre eine Lösung. „Ein Ehemann ist keine Altersvorsorge“, sagt Helma Sick, Deutschlands berühmteste
Finanzberaterin und rät Frauen dringend zu einem konsequenten Vermögensaufbau. Dieser kann jedoch nicht gelingen, wenn Frauen durch Pflege und Teilzeitarbeit ein geringes Einkommen haben. Es ist eine Steuer- und Pflegegesetzgebung notwendig, die den demographischen Wandel berücksichtigt und Frauen wie uns Ärztinnen den Verbleib im Beruf ermöglicht.

Die MWoT weist auf strukturelle Probleme im Gesundheitswesen hin. Dagegen müssen wir uns im DÄB stemmen. Es darf keine Nachteile mehr für Frauen in den mittleren Lebensjahren geben. Wir verlieren derzeit viele unserer besten berufstätigen Kolleginnen. Pflegefreundliche Arbeitsplätze im Gesundheitswesen mit flexibler Lebensarbeitszeit, Top-Sharing, Day-Care-Programme für Erwachsene, gute Pflegeheime und vieles mehr gehört dazu, um strukturelle Nachteile zu beseitigen. Das oft bemühte Argument, die Arbeitszeit von Ärzt:innen lasse sich kaum normieren, zieht in Wahr-heit nicht. Die Nobelpreisträgerin Claudia Goldin, eine Wirtschaftswissenschaftlerin, erklärt, dass Übergaben im ärztlichen Beruf ohnehin notwendig sind. Die 24/7-Versorgung unserer Patient:innen muss gewährleistet sein, und irgendwann müssen Ärzt:innen sich dabei abwechseln. Warum also nicht mit klar begrenzten Arbeitszeiten und Top- sowie Job-Sharing? Gerade in unserem Beruf ist es eigentlich gut umsetzbar!

Zurück zum Persönlichen

Meine Mutter hat noch vier Jahre im Heim gelebt. Ich habe wieder in Teilzeit gearbeitet. Warum zeitreduziert? Pflege hört für Angehörige nicht auf, wenn die zu pflegende Person im Heim ist. Die Tochter meines Partners hat ein zweites Kind bekommen, ihre Karriere lief gut. Das ältere Kind war meistens bei uns. Solange meine Mutter mobil war, ist es mit ins Heim gegangen. Die zwei verstanden sich gut. In der Todesnacht meiner Mutter habe ich dem diensthabenden Pfleger – der noch nie mit einer Sterbenden allein auf der Station war und große Angst hatte – versprochen, nicht von ihrer Seite zu weichen. So konnte er sich darauf einlassen, dass sie nicht ins Krankenhaus verlegt wurde, und er wurde mir sogar zu einer großen Hilfe. Meine Mutter ist in dieser Nacht in ihrem eigenen Bett gestorben.

Dr. med. Renate Böhm ist kooptiertes Mitglied im Vorstand des DÄB, Nationale Koordinatorin (NC) des DÄB zum Weltärztinnenbund (MWIA). Dort leitet sie Senior-MWIA, die Vereinigung älterer Ärztinnen im Weltärztinnenbund.


Ich danke den Mittwochsphilosophinnen Sigrun, Marie-Louise,
Marianne und Ivana für die wertvollen Anregungen, besonders zu Long-Distance-Care und gesundheitlichen Auswirkungen von Langzeitpflege auf die Pflegenden. Ich danke Dr. Ulrike Engelmayer für die Anregung, Claudia Goldin zu lesen, und Regina Strüber für die wertvollen Hinweise zur finanziellen Situation von Pflegenden.


Literatur bei der Verfasserin.

E-Mail: renate.boehm@aerztinnenbund.de