Foto: privat

Schlagen Frauenherzen immer noch anders?

Die Gendermedizin beschäftigt sich mit dem Einfluss des Geschlechts auf die Prävention, Entstehung, Diagnose und Therapie von Erkrankungen. Sie etabliert sich zunehmend. Seit 2015 wird sogar im fünften Buch des Sozialgesetzbuches die Beachtung geschlechtsspezifischer Beson­derheiten für Krankenkassenleistungen gefordert.

Die Gendermedizin betrachtet speziell Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die oftmals vernachlässigt werden, aber dennoch relevant sind: Herz-Kreislauf-Erkrankungen beispielsweise sind nach wie vor die häufigste Todesursache – sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Laut Todesursachenstatistik starben im Jahr 2017 56 820 Frauen an einer koronaren Herzkrankheit. Dies entspricht 12 Prozent aller Todesfälle bei Frauen. Zum Vergleich: Bei Männern waren es 15 Prozent.

Immer mehr Unterschiede

Ungeachtet ihrer Relevanz für Frauen galten Herz-Kreislauf-Krankheiten dennoch jahrzehntelang als männertypisch. Und es gibt weitere Auffälligkeiten: Medizinisches Wissen wurde bis vor kurzem meist geschlechterneutral gelehrt und in den klinischen Alltag inte­griert. Dabei zeigen viele Studien, dass sich viele Erkrankungen bei gleicher Therapie je nach Geschlecht unterschiedlich auf das Outcome auswirken.

Durchschnittlich treten akute Herzin­farkte und auch die Arteriosklerose bei Frauen 15 Jahre später auf als bei Männern. Hierbei spielen vor allem Dia­betes mellitus und die arterielle Hyper­tonie eine große Rolle bei der Entstehung der koronaren Herzerkrankung (KHK) im Vergleich zur Entwicklung bei Männern. Männer sind vom plötzlichen Herztod viel häufiger betroffen als Frauen und auch eine Herzinsuffizienz ist bei ihnen wahrscheinlicher. Inzwischen spielt so ein Wissen um Geschlechter­unterschiede bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine immer größere Rolle.

Vor- und Nachsorge

Wie geht es also weiter? Die gegenwärtige medizinische Situation sollte verbessert werden, indem man ein besonderes Augenmerk auf Frauen und ihre (kardiovaskulären) Erkrankungen legt. Die geschlechtsspezifische Vor- und Nachsorge müsste ausgeweitet werden. Wünschenswert wären mehr Fortbildungsmöglichkeiten für Ärzt:innen und auch das Pflegepersonal über geschlechtssensible Themen. Aber auch die Lehre in speziellen medizinischen Fächern an der Universität, wie etwa Gendermedizin, gilt es weiter auszubauen. Das Interesse der Studierenden in Deutschland an der medizinischen Geschlechterforschung jedenfalls steigt.

Weiterhin sollten wir uns dafür einsetzen, dass das weibliche Geschlecht zukünftig häufiger in Studien eingeschlossen wird, denn Frauen sind in klinischen Studien in Europa immer noch weitgehend unterrepräsentiert. Dabei sollte in wissenschaftlichen Arbeiten ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis angestrebt werden. Vielleicht sollte sich dieses Verhältnis letztlich aber auch an der Geschlechterverteilung der Krankheiten orientieren? Ein über 80 Kilo schwerer Mann darf jedenfalls kein Maßstab für medizinische Studien sein: Eine geschlechtsspezifische Medizin und Forschung könnte für mehr Gerechtigkeit sorgen und sich an die individuellen Risiken und Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten anpassen.

Dr. med. Viyan Sido ist Fachärztin für Herzchirurgie und hat gerade ihren Master im Fach Public Health beendet. In ihrer Masterarbeit beschäftigt sie sich mit dem Thema Gendermedizin. Sie ist zudem Mitglied im Beirat für geschlechtersensible Medizin der Universität Bielefeld.

E-Mail: viyan.sido@immanuelalbertinen.de