„Frauen spenden - Männer empfangen“: Psychologische und geschlechtsspezifische Aspekte der Lebendorganspende
Auszug aus dem Vortrag von Dr. des. Merve Winter*
Seit geraumer Zeit wird in der Fachliteratur über die sogenannte gender imbalance – das Geschlechterungleichgewicht in der Organspende – diskutiert. Diese Unterschiede im Spendeverhalten finden sich dabei sowohl in der Postmortal- als auch in der Lebend-organspende und sie existieren auf Seiten des Empfangs und der Spende. Im Folgenden soll es primär um die Unterschiede auf Seiten der Spende gehen.
Für die Postmortalspende haben jüngste Repräsentativerhebungen ergeben, dass Frauen häufiger einen Organspende Ausweis besitzen (Ahlert & Schwettmann 2011) und prinzipiell kritischer gegenüber sogenannten „Bonussystemen“ eingestellt sind. Hier zeigten Frauen klar altruistischere Motive zur Spende als Männer (Decker et al. 2008, Ahlert & Schwettmann 2011). In der Lebendorganspende findet sich eine besonders auffällige Geschlechterverteilung in der Schweiz und in Deutschland: Hier sind Frauen ungefähr zu zwei Drittel die Spenderinnen:
Prinzipiell kann konstatiert werden, dass es sich bei der gender imbalance im Rahmen der Lebendorganspende um ein weltweites und trotz steigender Spendezahlen um ein konstantes Phänomen handelt. Medizinische Gründe klären hierbei den Unterschied nicht auf, so dass davon auszugehen ist, dass die Gründe für diese Ungleichverteilung in kulturellen und psychosozialen Aspekten sowie den Geschlechterrollen gesucht werden müssen. Aus medizinethischer Sicht kann es dabei nicht darum gehen, Frauen aktiv vom Spenden abzuhalten. Aber es erscheint auch schwierig, sie allein zu ihrem scheinbar größeren Altruismus zu beglückwünschen. Stattdessen sollte nach den Gründen für die Ungleichverteilung gesucht und Männer ggf. verstärkt zum Spenden aufgefordert werden.
Im Folgenden möchte ich in aller Kürze die Ergebnisse einer eigenen qualitativen Studie vorstellen, die sich mit möglichen Gründen für die bestehende gender imbalance im Rahmen der Lebendorganspende auseinandergesetzt hat. Im Fokus standen dabei neben geschlechtsspezifischen Spendemotivationen und Entscheidungsprozessen auch doing-gender-Prozesse im Vorfeld einer Lebendorganspende. Das Sample bestand aus 21 teilnarrativen Interviews, die zur Hälfte in der Schweiz und zur Hälfte in Deutschland geführt wurden. Dabei wurde gemäß den Ansprüchen qualitativer Forschung auf ein möglichst heterogenes Sample mit verschiedenen Spendekonstellationen (Eltern-Kind, Geschwister, Ehepaarspenden) geachtet, um später besser vergleichen und kontrastieren zu können. Für die Auswertung wurde eine Methodenkombination verschiedener qualitativer Verfahren gewählt. So wurden neben einer Positionierungsanalyse nach Lucius-Hoene und Deppermann (2004) auch Erzählfiguren des Wünschens nach Boothe (2011) untersucht. Die Einzelfälle wurden in einer Längsauswertung untersucht, die anschließende Querauswertung mündete am Schluss in einer Typenbildung mit drei Haupttypen:
Es lässt sich festhalten, dass sich Spendemotivationen und Entscheidungsprozesse als weniger relevant erwiesen haben als zunächst angenommen. An die Stelle der Entscheidungsprozesse ist stattdessen ein Selbstverständlichkeitsdiskurs gerückt, der häufig von den Betroffenen identitätslogisch begründet wird (ich spende, weil ich die Mutter, Ehefrau bin). Weiterhin fand sich ein empirisch nachweisbarer Imperativ zur Spende, der bisher nur diskursanalytisch aufzuzeigen war (Motakef 2011). In diesem Imperativ wird die Organspende in einem normativen Diskurs als das „richtige Tun“ propagiert und alle, die nicht spenden, werden mitverantwortlich gemacht für den sogenannten „Tod auf der Warteliste“. Der viel propagierte Grundsatz der „Freiwilligkeit“ und die angebliche „Ergebnisoffenheit“ einer Entscheidung beim Thema Organspende sind somit nicht mehr gegeben. Auch lässt sich an dieser Stelle fragen, wieso der hier so stark geforderte Solidaritätsgedanke sich ausgerechnet im Feld der Organspende findet, vergleichsweise wenig dagegen aber im ökonomischen Sektor. In der Lebendorganspende findet sich dieser Imperativ ebenfalls, da die Lebendorganspende mittlerweile die Behandlungsmethode der Wahl bei terminaler Niereninsuffizienz darstellt und sich für Angehörige die Situation ergibt, nicht mit gutem Gewissen nicht spenden zu können.
Meine Studie konnte zeigen, dass eine Lebendorganspende entsprechend immer zwischen Zwang und Freiwilligkeit angesiedelt ist und sich die Autonomie einer Spendeentscheidung vor diesem Hintergrund als fraglich erweist. Mit Fateh-Moghadam et al. (2004, S. 32) würde ich argumentieren, dass gerade die Verschränkung von Zwang und Freiwilligkeit als eine „Dialektik von Hilfemöglichkeit und Entscheidungslast“ für die Lebendorganspende konstitutiv ist. Eine innerpsychische Aneignung und die Überwindung des „natürlichen Widerwillens“ gegen diese Form von Selbstverletzung kann nur gelingen, wenn eine Spende zum eigenen „Projekt“ gemacht und euphorisiert vorangetrieben werden kann, wie meine Interviews gezeigt haben. In diesem Sinne bietet sie dann eine große Handlungsfähigkeit (Agency) für die betroffenen Angehörigen.
Lebendorganspende und Geschlecht
Frauen scheinen aufgrund ihrer Identitätspositionen (als Ehefrauen, Mütter, Schwestern) die Anrufungen im Rahmen der Organspende stärker zu vernehmen als Männer, indem sie sich von sich aus eher als Spenderinnen anbieten, ihnen von ihrer Umwelt aber auch stärker gespiegelt wird, dass es „ihr Part“ sei, zu spenden. Männer scheinen dagegen eher in Zwangssituationen zu spenden, in denen außer ihnen niemand sonst für eine Spende in Frage kommt. Außerdem scheinen sie stärker als Frauen an der Depotenzierung durch die eigene Erkrankung zu leiden. Die befragten Ehemänner in meinem Sample zeigten deutlich mehr Probleme, ihren Ehefrauen die Position der potenten Spenderin zu gönnen, während die potentiell empfangenen Ehefrauen die anstehende Spende durch ihren Ehemann weitgehend geschlechtsrollenkonform erlebten (der potente und meist ohnehin versorgende Ehemann spendet nun auch noch eine Niere).
Um eine geschlechtersensible Begutachtung im Rahmen einer Lebendorganspende zu gewährleisten, sollten Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen darauf achten, den spendenden Angehörigen im Vorfeld einer Spende ausreichend Zeit und die Möglichkeit zur Artikulation ihrer Ambivalenzen zu eröffnen. Denn trotz der „Erfolgsgeschichte der Organtransplantation“ sollten die Nebenwirkungen und psychischen Verrechnungskosten dieses Verfahrens nicht aus dem Blick geraten.
Literatur:
Ahlert, Marlis und Lars Schwettmann (2011): Die Einstellung der Bevölkerung zur Organspende. In: Böcken, Jan; Braun, Bernard und Uwe Repschläger (Hrsg.) (2011):
Gesundheitsmonitor 2011. Bürgerorientierung im Gesundheitswesen. Kooperationsprojekt der Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK. Verlag Bertelsmann Stiftung; S. 193-213
Boothe, Brigitte (2011): Das Narrativ. Biographisches Erzählen im psychotherapeutischen Prozess. Stuttgart, Schattauer Verlag
Decker, Oliver, Winter, Merve; Brähler, Elmar und Manfred Beutel (2008): Between Commodification and Altruism. Gender Imbalance and Attitudes towards Organ Donation. Journal of Gender Studies 17, pp. 251–255
Fateh-Moghadam, Bijan; Schroth, Ulrich; Gross, Christiane und Thomas Gutmann (2004): Die Praxis der Lebendspendekommissionen – Eine exemplarische Untersuchung zur Implementierung prozeduraler Modelle der Absicherung von Autonomiebedingungen im Transplantationswesen. Teil 1: Freiwilligkeit. Medizinrecht 2004, Heft 1, S. 19-34
Lucius-Hoene, Gabriele und Arnulf Deppermann (2004): Narrative Identität und Positionierung. In: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion. Ausgabe 5, S. 166-183
Motakef, Mona (2011): Körper Gabe. Ambivalente Ökonomien der Organspende. Bielefeld, transkript Verlag
Für die Postmortalspende haben jüngste Repräsentativerhebungen ergeben, dass Frauen häufiger einen Organspende Ausweis besitzen (Ahlert & Schwettmann 2011) und prinzipiell kritischer gegenüber sogenannten „Bonussystemen“ eingestellt sind. Hier zeigten Frauen klar altruistischere Motive zur Spende als Männer (Decker et al. 2008, Ahlert & Schwettmann 2011). In der Lebendorganspende findet sich eine besonders auffällige Geschlechterverteilung in der Schweiz und in Deutschland: Hier sind Frauen ungefähr zu zwei Drittel die Spenderinnen:
Prinzipiell kann konstatiert werden, dass es sich bei der gender imbalance im Rahmen der Lebendorganspende um ein weltweites und trotz steigender Spendezahlen um ein konstantes Phänomen handelt. Medizinische Gründe klären hierbei den Unterschied nicht auf, so dass davon auszugehen ist, dass die Gründe für diese Ungleichverteilung in kulturellen und psychosozialen Aspekten sowie den Geschlechterrollen gesucht werden müssen. Aus medizinethischer Sicht kann es dabei nicht darum gehen, Frauen aktiv vom Spenden abzuhalten. Aber es erscheint auch schwierig, sie allein zu ihrem scheinbar größeren Altruismus zu beglückwünschen. Stattdessen sollte nach den Gründen für die Ungleichverteilung gesucht und Männer ggf. verstärkt zum Spenden aufgefordert werden.
Im Folgenden möchte ich in aller Kürze die Ergebnisse einer eigenen qualitativen Studie vorstellen, die sich mit möglichen Gründen für die bestehende gender imbalance im Rahmen der Lebendorganspende auseinandergesetzt hat. Im Fokus standen dabei neben geschlechtsspezifischen Spendemotivationen und Entscheidungsprozessen auch doing-gender-Prozesse im Vorfeld einer Lebendorganspende. Das Sample bestand aus 21 teilnarrativen Interviews, die zur Hälfte in der Schweiz und zur Hälfte in Deutschland geführt wurden. Dabei wurde gemäß den Ansprüchen qualitativer Forschung auf ein möglichst heterogenes Sample mit verschiedenen Spendekonstellationen (Eltern-Kind, Geschwister, Ehepaarspenden) geachtet, um später besser vergleichen und kontrastieren zu können. Für die Auswertung wurde eine Methodenkombination verschiedener qualitativer Verfahren gewählt. So wurden neben einer Positionierungsanalyse nach Lucius-Hoene und Deppermann (2004) auch Erzählfiguren des Wünschens nach Boothe (2011) untersucht. Die Einzelfälle wurden in einer Längsauswertung untersucht, die anschließende Querauswertung mündete am Schluss in einer Typenbildung mit drei Haupttypen:
- den selbstverständlich-euphorischen SpenderInnen mit hoher Spende-Agency
- den selbstverständlich-ambivalenten Spendern (nur Männer), die „keine Wahl“ haben
- und der ambivalent-widerständigen Spenderin.
Es lässt sich festhalten, dass sich Spendemotivationen und Entscheidungsprozesse als weniger relevant erwiesen haben als zunächst angenommen. An die Stelle der Entscheidungsprozesse ist stattdessen ein Selbstverständlichkeitsdiskurs gerückt, der häufig von den Betroffenen identitätslogisch begründet wird (ich spende, weil ich die Mutter, Ehefrau bin). Weiterhin fand sich ein empirisch nachweisbarer Imperativ zur Spende, der bisher nur diskursanalytisch aufzuzeigen war (Motakef 2011). In diesem Imperativ wird die Organspende in einem normativen Diskurs als das „richtige Tun“ propagiert und alle, die nicht spenden, werden mitverantwortlich gemacht für den sogenannten „Tod auf der Warteliste“. Der viel propagierte Grundsatz der „Freiwilligkeit“ und die angebliche „Ergebnisoffenheit“ einer Entscheidung beim Thema Organspende sind somit nicht mehr gegeben. Auch lässt sich an dieser Stelle fragen, wieso der hier so stark geforderte Solidaritätsgedanke sich ausgerechnet im Feld der Organspende findet, vergleichsweise wenig dagegen aber im ökonomischen Sektor. In der Lebendorganspende findet sich dieser Imperativ ebenfalls, da die Lebendorganspende mittlerweile die Behandlungsmethode der Wahl bei terminaler Niereninsuffizienz darstellt und sich für Angehörige die Situation ergibt, nicht mit gutem Gewissen nicht spenden zu können.
Meine Studie konnte zeigen, dass eine Lebendorganspende entsprechend immer zwischen Zwang und Freiwilligkeit angesiedelt ist und sich die Autonomie einer Spendeentscheidung vor diesem Hintergrund als fraglich erweist. Mit Fateh-Moghadam et al. (2004, S. 32) würde ich argumentieren, dass gerade die Verschränkung von Zwang und Freiwilligkeit als eine „Dialektik von Hilfemöglichkeit und Entscheidungslast“ für die Lebendorganspende konstitutiv ist. Eine innerpsychische Aneignung und die Überwindung des „natürlichen Widerwillens“ gegen diese Form von Selbstverletzung kann nur gelingen, wenn eine Spende zum eigenen „Projekt“ gemacht und euphorisiert vorangetrieben werden kann, wie meine Interviews gezeigt haben. In diesem Sinne bietet sie dann eine große Handlungsfähigkeit (Agency) für die betroffenen Angehörigen.
Lebendorganspende und Geschlecht
Frauen scheinen aufgrund ihrer Identitätspositionen (als Ehefrauen, Mütter, Schwestern) die Anrufungen im Rahmen der Organspende stärker zu vernehmen als Männer, indem sie sich von sich aus eher als Spenderinnen anbieten, ihnen von ihrer Umwelt aber auch stärker gespiegelt wird, dass es „ihr Part“ sei, zu spenden. Männer scheinen dagegen eher in Zwangssituationen zu spenden, in denen außer ihnen niemand sonst für eine Spende in Frage kommt. Außerdem scheinen sie stärker als Frauen an der Depotenzierung durch die eigene Erkrankung zu leiden. Die befragten Ehemänner in meinem Sample zeigten deutlich mehr Probleme, ihren Ehefrauen die Position der potenten Spenderin zu gönnen, während die potentiell empfangenen Ehefrauen die anstehende Spende durch ihren Ehemann weitgehend geschlechtsrollenkonform erlebten (der potente und meist ohnehin versorgende Ehemann spendet nun auch noch eine Niere).
Um eine geschlechtersensible Begutachtung im Rahmen einer Lebendorganspende zu gewährleisten, sollten Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen darauf achten, den spendenden Angehörigen im Vorfeld einer Spende ausreichend Zeit und die Möglichkeit zur Artikulation ihrer Ambivalenzen zu eröffnen. Denn trotz der „Erfolgsgeschichte der Organtransplantation“ sollten die Nebenwirkungen und psychischen Verrechnungskosten dieses Verfahrens nicht aus dem Blick geraten.
Literatur:
Ahlert, Marlis und Lars Schwettmann (2011): Die Einstellung der Bevölkerung zur Organspende. In: Böcken, Jan; Braun, Bernard und Uwe Repschläger (Hrsg.) (2011):
Gesundheitsmonitor 2011. Bürgerorientierung im Gesundheitswesen. Kooperationsprojekt der Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK. Verlag Bertelsmann Stiftung; S. 193-213
Boothe, Brigitte (2011): Das Narrativ. Biographisches Erzählen im psychotherapeutischen Prozess. Stuttgart, Schattauer Verlag
Decker, Oliver, Winter, Merve; Brähler, Elmar und Manfred Beutel (2008): Between Commodification and Altruism. Gender Imbalance and Attitudes towards Organ Donation. Journal of Gender Studies 17, pp. 251–255
Fateh-Moghadam, Bijan; Schroth, Ulrich; Gross, Christiane und Thomas Gutmann (2004): Die Praxis der Lebendspendekommissionen – Eine exemplarische Untersuchung zur Implementierung prozeduraler Modelle der Absicherung von Autonomiebedingungen im Transplantationswesen. Teil 1: Freiwilligkeit. Medizinrecht 2004, Heft 1, S. 19-34
Lucius-Hoene, Gabriele und Arnulf Deppermann (2004): Narrative Identität und Positionierung. In: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion. Ausgabe 5, S. 166-183
Motakef, Mona (2011): Körper Gabe. Ambivalente Ökonomien der Organspende. Bielefeld, transkript Verlag