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Digitale Zwillinge in der personalisierten Brustkrebstherapie

Maßgeschneiderte Medizin oder neue Ungleichheiten?

Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung bei Frauen, allerdings erkranken auch jedes Jahr rund 700 Männer an Brustkrebs in Deutschland. Die personalisierte Medizin verspricht gezieltere Behandlungsstrate­gien, doch viele Standardtherapien basieren weiterhin auf Durchschnittswerten, anstatt individuelle Faktoren zu berücksichtigen. Ein neuer Ansatz sind digitale Patientinnen- und Patientenzwillinge – virtuelle, datenbasierte Modelle, die Krankheitsverläufe simulieren und Therapieoptionen individuell testen. In der Onkologie könnten sie eine echte Revolution bedeuten. Doch wie geschlechtersensibel sind digitale Zwillinge?

Digitale Zwillinge: Präzisionsmedizin für wen?

Digitale Patientinnen- und Patientenzwillinge sollen helfen, die Wirksamkeit von Therapien vorherzusagen und betroffenen Personen individuell abgestimmte Behandlungen zu ermöglichen. In Deutschland gibt es erste Forschungsansätze. So war etwa das Deutsche Krebsforschungszentrum neben anderen im Projekt „CLINIC 5.1” an der Entwicklung eines digitalen Zwillings zur Bilderkennung während Tumoroperationen beteiligt.

Auch in der personalisierten Brustkrebstherapie könnten digitale Zwillinge neue Möglichkeiten eröffnen, z. B. um individuelle Krankheitsverläufe besser zu verstehen: Wie reagiert der Tumor auf eine bestimmte Chemotherapie? Welche Nebenwirkungen sind zu erwarten? Die Simulation könnte dabei helfen, nicht wirksame Behandlungen zu vermeiden und Therapien gezielter anzupassen. Besonders in der Onkologie, wo sich Tumore biologisch stark unterscheiden, wäre ein solch individualisierter Ansatz ein weiterer Fortschritt.

Doch ein kritischer Punkt bleibt: Werden geschlechterspezifische Unterschiede ausreichend berücksichtigt? Medizinische Forschung hat lange Zeit vor allem auf männlichen Daten basiert. Somit könnten neue digitale Modelle selbst bei frauendominierten Erkrankungen wie Brustkrebs bestehende Ungleichheiten fortschreiben, wenn sie nicht bewusst geschlechtersensibel gestaltet werden.

Gender Bias in der digitalen Onkologie

Viele medizinische Algorithmen beruhen auf Datensätzen, die nicht ausreichend divers sind. Dabei sind bei Brustkrebs geschlechterspezifische Faktoren zentral:

  • Hormonelle Einflüsse, wie z. B. der Menopausen-Status, können das Ansprechen auf bestimmte Therapien erheblich beeinflussen. Ein digitales Modell, das diesen Faktor nicht einbezieht, könnte für prämenopausale Patientinnen unzuverlässige Prognosen liefern.
  • Reproduktionsmedizinische Aspekte sind für viele jüngere Brustkrebspa­tientinnen essenziell. Digitale Zwillinge sollten nicht nur das Ansprechen auf Therapien simulieren, sondern auch berücksichtigen, welche Auswirkungen eine Chemotherapie auf die Fruchtbarkeit haben kann.
  • Männliche Brustkrebspatienten machen zwar nur 1 % der Fälle aus, haben aber oft schlechtere Prognosen. Digitale Zwillinge, die nur auf weiblichen Daten beruhen, könnten diese Patienten­gruppe systematisch übersehen und benachteiligen.
Ein weiteres Problem ist die Datenrepräsentation. Frauen sind historisch in klinischen Studien unterrepräsentiert, besonders in interdisziplinären Forschungsbereichen wie der Künstlichen Intelligenz. Werden digitale Zwillinge mit verzerrten oder unvollständigen Daten trainiert, riskieren wir eine Technologie, die nicht alle Patientinnen-/Patientengruppen angemessen abbildet. So erkennen viele KI-gestützte Diagnosesysteme Krankheitsbilder bei Männern besser als bei Frauen, weil die Trainingsdaten überwiegend männlich sind. Diese Art von Bias könnte sich bei digitalen Zwillingen fortsetzen.

Ein Blick in laufende Forschungsprojekte zeigt: Das Bewusstsein für diese Problematik wächst.

Herausforderungen und offene Fragen

Neben der geschlechtersensiblen Gestaltung gibt es weitere offene Fragen, die über den Erfolg oder Misserfolg digitaler Zwillinge mitentscheiden:

  • Zugang und Kosten: Wird die Technologie allen Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen oder nur bestimmten Gruppen? Wenn die Entwicklung digitaler Zwillinge aufwändig und teuer bleibt, profitieren möglicherweise nur spezialisierte Zentren oder privat Versicherte.
  • Validierung und klinische Evidenz: Noch fehlt der wissenschaftliche Nachweis, dass digitale Zwillinge tatsächlich bessere Therapieentscheidungen ermöglichen als bisherige Modelle. Eine breite klinische Anwendung erfordert umfangreiche Validierungen.
  • Repräsentation von Vielfalt: Digitale Modelle müssen die Komplexität von Geschlecht, Ethnie und individuellen Krankheitsverläufen realistisch abbilden. Bestehende Verzerrungen in medizinischen Datensätzen könnten dazu führen, dass bestimmte Gruppen unzureichend oder fehlerhaft repräsentiert werden. Um digitale Zwillinge für alle nutzbar zu machen, müssen diversere Datensätze einbezogen und Algorithmen entsprechend trainiert werden.
  • Ethische und gesellschaftliche Fragestellungen: Wer hat Zugriff auf sensible Gesundheitsdaten? Wie kann eine informierte Einwilligung sichergestellt werden? Welche Auswirkungen hat die Simulation von Krankheitsverläufen auf die Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit? Verstärkt die Technologie das Bild eines „optimierbaren“ Körpers und führt zu neuen Formen von Normierung und Verantwortung?
  • Interdisziplinäre Zusammenarbeit: Um digitale Zwillinge
  • sinnvoll in die Praxis zu überführen, braucht es eine enge Kooperation zwischen Onkologie, Informatik, Datenwissenschaft und Sozialwissenschaften.

Technologie mitgestalten – nicht nur anwenden

Die Entwicklung digitaler Zwillinge braucht einen interdisziplinären und geschlechtersensiblen Ansatz. Ärztinnen und Ärzte sollten sich aktiv in die Diskussion einbringen und fordern, dass:
  • Frauen als Forscherinnen stärker in die Entwicklung solcher Technologien eingebunden sind,
  • Datensätze diverser und inklusiver gestaltet werden,
  • geschlechterspezifische Unterschiede in Algorithmen berücksichtigt werden.

Fazit: Wir brauchen eine Digitalisierung, die geschlechtersensibel ist


Digitale Zwillinge haben das Potenzial, die onkologische Versorgung zu revolutionieren. Doch sie sind kein Selbstläufer: Ob sie die personalisierte Medizin tatsächlich voranbringen oder bestehende Ungleichheiten verstärken, hängt davon ab, ob geschlechterspezifische Aspekte von Anfang an mitgedacht werden. Dafür braucht es mehr geschlechtersensible KI-Forschung, bessere Datenqualität durch inklusive Studien sowie interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Medizin, Informatik und Sozialwissenschaften. Denn digitale Medizin ist nur dann fortschrittlich, wenn sie für alle funktioniert.

Dipl.-Ing. Nora Weinberger ist Wissenschaftlerin am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Sie beschäftigt sich seit fast zwei Jahrzehnten mit den sozialen und ethischen
Implikationen neuer Technologien, insbesondere im Bereich Gesundheit und Lebenswissenschaften.

E-Mail: nora.weinberger@kit.edu


Dr. Dana Mahr ist seit 2023 Wissenschaftlerin mit dem
Schwerpunkt partizipative Forschung an den Schnittstellen von Wissenschaft, Technologie, Gesellschaft und Gesundheit am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemana-
lyse (ITAS) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Zuvor
war sie an der Universität Genf tätig und leitete dort das
Projekt „Development of Personalized Health in Switzerland“.

E-Mail: dana.mahr@kit.edu


Daniela Hery ist Digital Health Engineer und UX-Designerin am Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering (IESE) in der Abteilung Digital Health Engineering und
beschäftigt sich u. a. mit Human Centered Design und der Gestaltung von digitalen Anwendungen im Gesundheitsbereich.

E-Mail: daniela.hery@iese.fraunhofer.de


Dr. Theresa Ahrens forscht mit ihrer Abteilung Digital Health Engineering am Fraunhofer IESE zu Dateninteroperabilität, Künstlicher Intelligenz in der Medizin und zu digitalen Zwillingen von Patientinnen und Patienten.

E-Mail: theresa.ahrens@iese.fraunhofer.de
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