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Digitale und gendergerechte Hilfsmittelversorgung

Verbundprojekt als Lösungsansatz für eine digitale und gendergerechte Hilfsmittelversorgung

Jahrhundertelang wurden Frauen in der Medizin als Variante des männlichen Individuums betrachtet[10, 12, 17]. Diese Annahme verkennt, dass es bei vielen Erkrankungen deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf Prädisposition, Inzidenz, Entstehung, Symptomatik, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten gibt[1, 9]. In klinischen Studien sind Männer häufig überrepräsentiert. Mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede und Genderaspekte wurden in der bisherigen Forschungsliteratur bei der Analyse und Interpretation der Daten weitgehend vernachlässigt[13]. Geschlechtersensible Untersuchungsdesigns und -auswertungen fehlen [9, 13].

Auch in Studien zur Zufriedenheit und Nichtnutzung von Orthesen werden geschlechtsspezifische Unterschiede nur unzureichend analysiert[5–7, 11, 15, 16]. In der Folge fehlt es nicht nur an entsprechendem Wissen, sondern auch an Sensibilität und Handlungsanleitungen für die Praxis[8]. Dies ist insofern problematisch, als auch der geschlechtstypische Habitus im Umgang mit Gesundheit, Krankheitsrisiken und dem eigenen Kranksein nicht unterschätzt werden darf [9]. Denn auch das Gesundheits- und Krankheitsverhalten ist geschlechtsspezifisch[12].

INDiGO – Innovative Nachhaltige Digitale Gendergerechte Orthesenversorgung

Genau hier soll das auf drei Jahre angelegte Verbundprojekt »INDiGO – Innovative nachhaltige digitale gendergerechte Orthesenversorgung« ansetzen, das im Juli 2024 von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren aus Industrie, Forschung und Gesundheitswesen gestartet wurde[3]. Das Projekt wird im Rahmen des InnovationswettbewerbsGesünder.IN.NRW durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung(EFRE) mit Mitteln der Europäischen Union gefördert.
Übergeordnetes Ziel des Projekts INDiGO ist die interdisziplinäre Entwicklung und Erprobung einer nachhaltigen, volldigitalen Prozesskette zur gendergerechten Konzeption und Fertigung von Unterschenkel-Fuß-Orthesen(siehe Abbildung 1).

Projektbestandteile sind alle Prozessschritte von der objektiven Erfassung und Digitalisierung der Patientinnen und Patienten über die (teil)automatisierte Konstruktion bis hin zur Produktion mittels additiver Fertigung und Bewertung der Versorgungsqualität. Ein besonderer Fokus liegt auf der Erforschung geschlechtsspezifischer Anforderungen an die Orthesenversorgung. Denn hier bestehende Wissenslücken sollen nicht in digitale Versorgungsstrukturen überführt werden.

Abbildung 1: Schematische Darstellung der INDiGO-Prozesskette

Der Digitalisierung steht bislang eine androzentrische Ausrichtung der Medizin gegenüber[14]. Digitalisierungsprozesse allein werden nicht automatisch zu einer Gleichstellung der Geschlechter führen[2]. Hierzu bedarf es einer umfassenden wissenschaftlichen Datenbasis, die geschlechtsspezifische Unterschiede ausreichend analysiert und berücksichtigt. Für die Versorgung mit Unterschenkel-Fuß-Orthesen soll diese im Verbundprojekt INDiGO geschaffen werden. Damit werden auch wesentliche Voraussetzungen für die nächste Stufe der Digitalisierung, den Einsatz von Künstlicher Intelligenz(KI), erarbeitet.

Die im Projekt gewonnenen Erkenntnisse und Daten können für das Training von KI-Modellen genutzt werden. Allerdings ist für die Vermeidung geschlechtsbezogener Verzerrungseffekte (Gender Bias) und daraus resultierender Fehlversorgungen eine vollständige Datenbasis notwendig[4]. Die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede und Genderaspekte ist somit eine entscheidende Voraussetzung für den erfolgreichen Umgang mit KI. Chancengleichheit sollte von Anfang an als zentraler Aspekt für die Sicherstellung qualitativ hochwertiger digitaler Versorgungsprozesse etabliert werden. Dies soll mit dem Projekt INDiGO erreicht werden, um zur Überwindung des Gender Health Gaps in der Hilfsmittelversorgung beizutragen und einen wichtigen Schritt in Richtung Geschlechtergerechtigkeit zu gehen.

Ann-Kathrin Carl, M.Sc., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Labor für Biomechatronik an der Fachhochschule Münster.

E-Mail: a.carl@fh-muenster.de

Literatur:

  1. Bondio, M. G. (2014). Mann und Frau, ganz individuell Entwicklungen eines neuen medizinischen Denkens. In: Gadebusch Bondio, M.; Katsari, E. (Hrsg.), 'Gender-Medizin'. transcript Verlag, 9–16.
  2. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Oktober 2021). Dritter Gleichstellungsbericht: Digitalisierung geschlechtergerecht gestalten. https://www.bmfsfj.de/resource/blob/184544/c0d592d2c37e7e2b5b4612379453e9f4/dritter-gleichstellungsbericht-bundestagsdrucksache-data.pdf (Zugriff am: 13.03.2025)
  3. FH Münster (7. August 2024). Individuelle, nachhaltige Orthesen aus dem 3D-Drucker. https://www.fh-muenster.de/legacy/news/?newsId=3607 (Zugriff am: 14.03.2025)
  4. Healthcare Frauen e.V. (Oktober 2023). Gender-Bias bei Künstlicher Intelligenz ausschließen – Versorgungsqualität erhöhen: Positionspapier. (Zugriff am: 13.03.2025)
  5. Holtkamp, F.; Wouters, E. J.; van Hoof, J.; van Zaalen, Y. & Verkerk, M. J. (2015). Use of and Satisfaction with Ankle Foot Orthoses. In: Clinical Research on Foot & Ankle, 3(1) https://doi.org/10.4172/2329-910X.1000167
  6. Lahoud, D.; Teng, C. H.; Nusem, E.; Burns, J.; Wrigley, C. & Cheng, T. L. (2021). Content analysis of child user and carer perspectives of ankle-foot orthoses. In: Prosthetics and Orthotics International, 45(1), 12–19. https://doi.org/10.1177/0309364620952906
  7. Mezzio, A. J. & Valdes, K. (2019). Determining patient satisfaction with an upper and lower extremity orthotic intervention using the QUEST 2.0: A systematic review. In: Technology and Disability, 31(4), 141–151. https://doi.org/10.3233/TAD-190247
  8. Novicoff, W. M. & Saleh, K. J. (2011). Examining sex and gender disparities in total joint arthroplasty. In: Clinical Orthopaedics and Related Research, 469(7), 1824–1828. https://doi.org/10.1007/s11999-010-1765-y
  9. Pinn, V. W. (2003). Sex and Gender Factors in Medical Studies : Implications for Health and Clinical Practice. In: JAMA, 289(4), 397–400. https://doi.org/10.1001/jama.289.4.397
  10. Pinn, V. W. (2006). Past and Future: Sex and Gender in Health Research, the Aging Experience, and Implications forMusculoskeletal Health. In: The Orthopedic Clinics of North America, 37(4), 513–521. https://doi.org/10.1016/j.ocl.2006.09.006
  11. Ploeger, H. E.; Bus, S. A.; Brehm, M.-A. & Nollet, F. (2020). Use and usability of custom-made dorsiflexion-restricting ankle-foot orthoses for calf muscle weakness in polio survivors: a cross-sectional survey. In: European Journal of Physical and Rehabilitation Medicine, 56(5), 575–584. https://doi.org/10.23736/S1973-9087.20.06020-7
  12. Ruiz, M. T. & Verbrugge, L. M. (1997). A two way view of gender bias in medicine. In: Journal of Epidemiology and Community Health, 51(2), 106–109. https://doi.org/10.1136/jech.51.2.106
  13. Scheipl, S. & Rásky, E. (2016). Zwei Geschlechter, ein Bewegungsapparat? Geschlecht und Gender als Einflussfaktoren in der Orthopädie. In: Hornberg, C.; Pauli, A.; Wrede, B. (Hrsg.), Medizin - Gesundheit - Geschlecht. Wiesbaden. Springer, 137–155.
  14. Schmechel, C. Geschlecht und Gesundheit : Kolloquium. Öffentlicher Vortrag im Institutskolloquium der Diversitätsforschung. Göttingen, 30.05.2024
  15. Swinnen, E.; Lafosse, C.; van Nieuwenhoven, J.; Ilsbroukx, S.; Beckwée, D. & Kerckhofs, E. (2017). Neurological patients and their lower limb orthotics: An observational pilot study about acceptance and satisfaction. In: Prosthetics and Orthotics International, 41(1), 41–50. https://doi.org/10.1177/0309364615592696
  16. Swinnen, E.; Lefeber, N.; Werbrouck, A.; Gesthuizen, Y.; Ceulemans, L.; Christiaens, S.; Wael, L. de; Buyl, R.; Ilsbroukx, S.; van Nieuwenhoven, J.; Michielsen, M.; Lafosse, C. & Kerckhofs, E. (2018). Male and female opinions about orthotic devices of the lower limb: A multicentre, observational study in patients with central neurological movement disorders. In: NeuroRehabilitation, 42(1), 121–130. https://doi.org/10.3233/NRE-172214
  17. Thomas, A. & Kautzky-Willer, A. (16. August 2015). Gender Medizin. https://www.gender-glossar.de/post/gender-medizin (Zugriff am: 12.03.2025)
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