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Gutachten: Vermittlung von geschlechtersensiblem Wissen an den Universitäten ist absolut unzureichend

„Studiert wird nur der Mann“: So lautete eine Schlagzeile als Reaktion auf eine aktuelle Erhebung für das Bundesgesundheitsministerium, an der auch der DÄB beteiligt ist. „Gender in der Lehre“ ist das Thema. Das Ergebnis: Geschlechtersensible Aspekte kommen im Medizinstudium an den meisten Fakultäten immer noch viel zu kurz. Doch immerhin erhält das Problem jetzt mehr Aufmerksamkeit.

Der Name ist neutral: „Aktueller Stand der Integration von Aspekten der Geschlechtersensibilität und des Geschlechterwissens in Rahmenlehr- und Ausbildungsrahmenpläne, Ausbildungskonzepte, -curricula und Lernzielkataloge für Beschäftigte im Gesundheitswesen.“ Im Mai 2020 haben wir, eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen der Berliner Charité, dem Bundesgesund­heitsministerium dieses Gutachten vorgelegt.

Die Ergebnisse der Erhebung sind alles andere als neutral. Sie bestätigten ek­latante Defizite bei der geschlechts­spezifischen Lehre in den deutschen
medizinischen Fakultäten und anderen Institutionen der Lehre für Kranken­pflege und Physiotherapie. Erfreulicherweise ist es gelungen, diese Befunde öffentlich wahrnehmbar zu machen. Die Medien­reaktionen haben uns be­stätigt: Die unzureichende Verankerung von Gender­aspekten im Medizinstudium trifft inzwischen einen Nerv.

Erste DÄB-Daten von 2016

Presse, Funk und Fernsehen haben breit berichtet, auch über die Fachmedien hinaus. „Zeit Campus“ konstatierte beispielsweise: „Nur wenige Medizinstudierende lernen, dass Frauen anders krank sind als Männer. Das kann schwerwie- gende Folgen für ihre zukünftigen Pa­tientinnen und Patienten haben.“

Uns Autorinnen hat das Ergebnis der Er­hebung nicht überrascht. Schon 2016 hatte der DÄB zu dem Thema eine orientierende Umfrage gemacht. Das Deutsche Ärzteblatt hatte daraufhin getitelt, die genderspezifische Lehre stecke „noch in den Kinderschuhen“. In den folgenden Jahren haben wir die Entwicklung verfolgt und ahnten bereits, dass es nur langsam vorangeht.

Forderungen jetzt gestellt

Jetzt aber ist das Ergebnis amtlich. Die Forderungen zur strukturellen Verankerung in den Curricula sind gestellt und müssen auch im Laufe der Zeit durch ministerielle Unterstützung erfüllt werden. Es scheint sich herumzusprechen, dass Gendermedizin keine Geschmacksache ist, sondern ein sich erweiternder Wissenschaftsbereich mit klaren Verbindungen zur medizinischen Versorgungsqualität für die gesamte Bevölkerung, also für Männer und Frauen.

Interessanterweise gehen offensichtlich der strukturellen Verankerung – die angemahnt wurde – individuelle Lehrangebote zu den wichtigsten genderspezifischen Themen voraus. Für Kardiologie und Klinische Pharmakologie wurde das evaluiert. Gut wäre es nun, weitere wichtige klinische Fächer zu evaluieren und darauf hinzuwirken, Genderaspekte in Zusammenarbeit mit den verantwortlichen Lehrkräften direkt zu implementieren. Das internationale Schrifttum gibt inzwischen einiges an Lehrmaterial her. Doch es ist unklar, was bei den Studierenden ankommt.

Ministerium erkennt Bedarf

Wie es zu dem Gutachten kam? Als Charité-Wissenschaftlerinnen haben wir (Dr. med. Ute Seeland, Dr. rer. Medic. Sabine Ludwig, Dr. phil. Susanne Dettmer und ich) uns auf die Ausschreibung des Bundesgesundheitsministeriums beworben und den Zuschlag erhalten. Die einzelnen Abschnitte haben wir zur Bearbeitung kollegial verteilt, die Arbeitsschritte gemeinsam besprochen und diskutiert. Eine Menge Arbeit, die man im Endeffekt dem Gutachten nicht ansieht! Nach fast einem Jahr, vielen Nachfragen und Konferenzen wurden die Ergebnisse verschriftlicht. Das Ministerium akzeptierte den Handlungsbedarf.

Inzwischen geht es andernorts positiv weiter: Zum einen sind jetzt auch in den Prüfungsfragen des IMPP (Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen) Formate für Genderwissen eingeplant und werden diskutiert. Das war auch eine Forderung aus dem Gutachten. Zum anderen richten zwei von 36 medizinischen Fakultäten in Deutschland Lehrstühle für Gendermedizin ein: die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, eine Stiftungsprofessur und die im Aufbau befindliche Medi­zinische Fakultät der Universität Bielefeld.

Wir gehen davon aus, dass der Schwung für die Gendermedi­zin anhält. In der Tagespresse ist das Thema inzwischen etabliert. Nicht zuletzt, weil die Corona-Pandemie so markante geschlechterspezifische Unterschiede mit sich bringt.

Entwicklung stockt an einigen Stellen

Andererseits: Der internationale englischsprachige Master-Studiengang „Health and Society: International Gender Studies Berlin“, den ich an der Charité gegen vielen Widerstände etablieren konnte, wurde zwar nach dem Gutachten einer unabhängigen Akkreditierungsagentur als besonders unterstützungs- würdig eingestuft. Drei Jahre nach meinem Ausscheiden wurde er trotzdem eingestellt.

Außerdem wurde das Charité-Institut für Geschlechterforschung in der Medizin, weit bekannt in Deutschland und Europa, nicht wieder mit einer Medizinerin als Führungskraft nachbesetzt, sondern mit einer Psychologin. Der Fokus der Forschung liegt dadurch nun auf der geschlechtersensiblen Prävention und nicht mehr auf den medizinischen Grundlagen.

Genderlehre nur punktuell


Hier noch eine kurze Zusammenfassung zentraler Ergebnisse des Gutachtens: An 70,4 Prozent der medizinischen Fakultäten in Deutschland werden Medizinstudierende nur punktuell in einzelnen Lehrveranstaltungen auf die Geschlechterunterschiede bei Krankheiten, Symptomen und Therapien aufmerksam gemacht. Die Studierenden selbst sehen das als Manko. Das hatte schon eine Umfrage des DÄB unter Medizinstudentinnen im vergangenen Jahr ergeben.

In den Modell- und Reformstudiengängen ist die Integration von geschlechtersensiblen Inhalten häufiger gelungen als in den traditionellen Regelstudiengängen – wenn auch selbst hier nur bei rund der Hälfte solcher Fakultäten.

Das Gutachten erbrachte auch Hinweise, woran es bei der Lehre von Gendermedizin hapert: Als maßgebliche Barrieren wurden eine mangelnde Bereitschaft beziehungsweise ein ge- ringes Problembewusstsein der Lehrkräfte genannt sowie de­ren fehlende Qualifizierung. Auch werden Genderaspekte in den einschlägigen Fach- und Lehrbüchern der medizinischen Fächer bisher nicht systematisch berücksichtigt. Weiter zeigte sich, dass Datenbanken und E-Learning-Plattformen zur Bereit­stellung von Unterrichtsmaterialien und Veranstaltungen zur Fort- und Weiterbildung als hilfreich empfunden werden.

Mehr Professuren gefordert

Insgesamt kommt die Forschungsarbeit zu dem Ergebnis, dass im Bereich Gendermedizin neue Professuren geschaffen werden sollten. Die Autorinnen regen außerdem an, die Approbationsordnung neu zu ordnen.

Die Datenerhebung erfolgte als Online-Umfrage, randomisiert nach Einwohnerzahl des Bundeslandes und ging unter anderem an alle Studiendekaninnen und Studiendekane der human­medizinischen Universitäten. Die Rücklaufquote betrug 75,6 Prozent für die medizinischen Fakultäten.

Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk ist Vizepräsidentin des DÄB.

E-Mail: gabriele.kaczmarczyk@aerztinnenbund.de