Betrachtung über Ärztinnen in der Medizingeschichte (Teil 4)
Hommage an eine Zahnmedizinerin
Dr. med. Katrin Wolf ist als hausärztliche Internistin in Berlin niedergelassen. Ihre Ausbildung führte sie nach England, Simbabwe und China. Nach einem berufsbegleitenden Public Health Studium arbeitete sie zeitweise in der Selbstverwaltung. In dieser Nähe zur Politik wurde sie vertraut mit der Bedeutsamkeit von Worten und Erzählungen. Sie begann zu schreiben, besuchte bis 2022 die „Autorenschule Schreibhain“ und gewann 2023 einen Schreibwettbewerb am Literaturhaus Zürich. Sie wird von einer Medienagentur vertreten und schreibt an einem Roman, in dem es um vergessene Künstlerinnen geht. In dieser Serie von Essays beschäftigt sie sich mit historischen Ärztinnen, die nur wenige kennen, weil Frauen in einer männlich geprägten Geschichtsschreibung lange kaum vorkamen.
Medizin und Zahnmedizin lagen schon immer eher weit auseinander. Die erste in Deutschland niedergelassene Zahnärztin Henriette Hirschfeld-Tiburtius aber könnte für eine Solidarität stehen, die auch den Medizinerinnen in Deutschland zu einem erfreulichen Aufwind verhalf.
Alles begann 1834 auf Sylt, wo sie als Henriette Pagelsen zur Welt kam und aufwuchs. Ein Bild zeigt sie mit sittsam hochgeschlossenem Kragen und ordentlich hochgesteckter Frisur. Wenn ich ihren Lebenslauf ansehe, denke ich, sie könnte gut auch etwas zerrütteter aussehen. Es fing nämlich eigentlich nicht gut an, sie wurde früh verheiratet und früh geschieden von dem viel älteren und alkoholkranken Herrn Hirschfeld. Auch im 19. Jahrhundert war es für eine Frau noch schwer, eine Scheidung durchzusetzen. Obendrein war sie ohne Geld, Einkommen und Ausbildung.
Statt zu verzweifeln ging sie nach Berlin und bekam eine Idee, die in ihr reifte: Sie wollte Zahnmedizin studieren. In Deutschland waren Frauen zu keinem Studium zugelassen, hatten aber die Möglichkeit in der Schweiz Medizin zu studieren, wenngleich der Abschluss nur eingeschränkt in Deutschland akzeptiert wurde. In der Zahnmedizin sah es ganz anders aus. In Deutschland gab es hierfür erst spät überhaupt einen qualifizierenden akademischen Abschluss, in den USA dagegen wesentlich früher. Als bekannt wurde, dass eine Frau in den USA Zahnmedizin studiert hatte, war das für Henriette das Startsignal. So lieh sie sich von Bekannten das nötige Geld und ging nach Amerika.
Sie bemühte sich in Philadelphia, am zweitältesten College für Zahnmedizin in den USA. Zu dieser Zeit waren Frauen allerdings weiterhin höchstens ausnahmsweise an Universitäten zugelassen. Am Philadelphia College of Dental Surgery wurde sie dann auch abgelehnt. Mit großem Einsatz schaffte sie es trotzdem und machte 1869 mit 35 Jahren ihren Abschluss. Erwähnenswert ist noch, dass sich der Professor für Anatomie am zahnmedizinischen College weigerte, Frauen zu unterrichten, so dass sie für ihre anatomische Ausbildung das medizinische College besuchen musste. Dort begegnete sie den Pionierinnen unter den Medizinerinnen, fand Gleichgesinnte in Fragen der Gleichberechtigung. Auch besuchte sie vor ihrer Rückkehr noch die Schwestern Blackwell, die 20 Jahre zuvor in den USA Medizin studiert hatten, Elizabeth als erste überhaupt.
Zurück in Berlin eröffnete sie ihre eigene Praxis in der Behrenstraße 9, wo heute eine Gedenktafel an sie erinnert. Sie heiratete den Arzt Karl Tiburtius und sie bekamen zwei Söhne.
Den Titel Zahnärztin oder Doktorin durfte sie jedoch nicht führen, wenngleich sie eine Ausbildung absolviert hatte, die besser und fortschrittlicher war als die der in Deutschland ausgebildeten männlichen Kollegen. Auch durfte sie nur Frauen und Kinder behandeln. Welches seltsame Frauenbild diese Einschränkung rechtfertigen sollte, sehe ich lieber nicht genauer an. Es gab Unterstützer der Gleichberechtigung und es gab Gegner, zu denen interessanterweise auch der sonst so fortschrittliche Rudolf Virchow zählte. Wenn ich daran denke, dass ich noch in den 1980er Jahren von einem Professor unterrichtet wurde, der Frauen wegen eines niedrigeren Eisenspiegels für weniger intelligent hielt, und von einem anderen Professor, der keine Frauen bei sich promovieren ließ, dann weiß ich, dass dieser Geist noch lange nachgewirkt hat.
Eine, die sich schon früh in Zeitungsartikeln über dieses Frauenbild humorvoll ausließ, war die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm, die natürlich zu Henriette Hirschfeld-Tiburtius ging, wenn sie Zahnschmerzen hatte. Kronprinzessin Victoria und der Kronprinz ließen sich ebenfalls von ihr behandeln.
Durch die Empfehlung einer Medizinhistorikerin komme ich zur Lektüre eines Buchs aus dem Jahr 1998, das aus einer Doktorarbeit über Henriette Hirschfeld-Tiburtius entstanden ist. Immer mehr bin ich gefesselt, bin beeindruckt über ihre Energie und unendlich berührt von ihrer Haltung, mit der sie zahllose soziale Projekte selbst initiierte oder unterstützte, sich für Frauen und Mittellose einsetzte.
Ihre Schwägerin Franziska Tiburtius und deren Kollegin Emilie Lehmus, die wohl ersten selbständigen Ärztinnen Deutschlands, haben 1876 die erste von Frauen geleitete „Poliklinik weiblicher Ärzte für Frauen und Kinder“ in der Alten Schönhauser Straße 23 gegründet, das weist die Gedenktafel aus. Dass aber Henriette Hirschfeld-Tiburtius nicht nur beide ermutigt und insbesondere ihre Schwägerin überzeugt hat, Medizin zu studieren, sondern auch die Gründung dieser Klinik wesentlich vorantrieb, erfahre ich erst durch diese Lektüre. Darüber hinaus richtete sie eine Pflegeanstalt für Frauen in ihrer Wohnung ein.
Mit Lina Morgenstern, die bereits Armenküchen eingerichtet hatte, gründete sie mehrere Institutionen zur Unterstützung alleinstehender oder in Not geratener Frauen.
Außerdem besuchte sie liberale, von Frauen geführte Salons, in denen solche Projekte unterstützt wurden. Aber auch ihre eigene Wohnung war Dreh- und Angelpunkt für verschiedene Frauenprojekte. Helene Lange und andere Frauen fanden sich hier ein. Es heißt, dass jede Frauenrechtlerin, die Berlin besuchte, auch ihr einen Besuch abstattete.
Ich hätte große Lust, sie auch zu besuchen, aber ich komme 150 Jahre zu spät. Wenigstens werde ich, wenn ich das nächste Mal nach Sylt komme, den nach ihr benannten Henriettenweg entlang ans Meer gehen und den Wind spüren, den sie vielleicht auch gespürt hat. Den Wind der Freiheit, der uns wie ein schöner Zauber immer dann anweht, wenn sich etwas verändert, richtiger wird und heiler als vorher.
Literatur bei der Verfasserin.
E-Mail: Dr.KatrinWolf_Autorin@gmx.de
Medizin und Zahnmedizin lagen schon immer eher weit auseinander. Die erste in Deutschland niedergelassene Zahnärztin Henriette Hirschfeld-Tiburtius aber könnte für eine Solidarität stehen, die auch den Medizinerinnen in Deutschland zu einem erfreulichen Aufwind verhalf.
Alles begann 1834 auf Sylt, wo sie als Henriette Pagelsen zur Welt kam und aufwuchs. Ein Bild zeigt sie mit sittsam hochgeschlossenem Kragen und ordentlich hochgesteckter Frisur. Wenn ich ihren Lebenslauf ansehe, denke ich, sie könnte gut auch etwas zerrütteter aussehen. Es fing nämlich eigentlich nicht gut an, sie wurde früh verheiratet und früh geschieden von dem viel älteren und alkoholkranken Herrn Hirschfeld. Auch im 19. Jahrhundert war es für eine Frau noch schwer, eine Scheidung durchzusetzen. Obendrein war sie ohne Geld, Einkommen und Ausbildung.
Statt zu verzweifeln ging sie nach Berlin und bekam eine Idee, die in ihr reifte: Sie wollte Zahnmedizin studieren. In Deutschland waren Frauen zu keinem Studium zugelassen, hatten aber die Möglichkeit in der Schweiz Medizin zu studieren, wenngleich der Abschluss nur eingeschränkt in Deutschland akzeptiert wurde. In der Zahnmedizin sah es ganz anders aus. In Deutschland gab es hierfür erst spät überhaupt einen qualifizierenden akademischen Abschluss, in den USA dagegen wesentlich früher. Als bekannt wurde, dass eine Frau in den USA Zahnmedizin studiert hatte, war das für Henriette das Startsignal. So lieh sie sich von Bekannten das nötige Geld und ging nach Amerika.
Sie bemühte sich in Philadelphia, am zweitältesten College für Zahnmedizin in den USA. Zu dieser Zeit waren Frauen allerdings weiterhin höchstens ausnahmsweise an Universitäten zugelassen. Am Philadelphia College of Dental Surgery wurde sie dann auch abgelehnt. Mit großem Einsatz schaffte sie es trotzdem und machte 1869 mit 35 Jahren ihren Abschluss. Erwähnenswert ist noch, dass sich der Professor für Anatomie am zahnmedizinischen College weigerte, Frauen zu unterrichten, so dass sie für ihre anatomische Ausbildung das medizinische College besuchen musste. Dort begegnete sie den Pionierinnen unter den Medizinerinnen, fand Gleichgesinnte in Fragen der Gleichberechtigung. Auch besuchte sie vor ihrer Rückkehr noch die Schwestern Blackwell, die 20 Jahre zuvor in den USA Medizin studiert hatten, Elizabeth als erste überhaupt.
Zurück in Berlin eröffnete sie ihre eigene Praxis in der Behrenstraße 9, wo heute eine Gedenktafel an sie erinnert. Sie heiratete den Arzt Karl Tiburtius und sie bekamen zwei Söhne.
Den Titel Zahnärztin oder Doktorin durfte sie jedoch nicht führen, wenngleich sie eine Ausbildung absolviert hatte, die besser und fortschrittlicher war als die der in Deutschland ausgebildeten männlichen Kollegen. Auch durfte sie nur Frauen und Kinder behandeln. Welches seltsame Frauenbild diese Einschränkung rechtfertigen sollte, sehe ich lieber nicht genauer an. Es gab Unterstützer der Gleichberechtigung und es gab Gegner, zu denen interessanterweise auch der sonst so fortschrittliche Rudolf Virchow zählte. Wenn ich daran denke, dass ich noch in den 1980er Jahren von einem Professor unterrichtet wurde, der Frauen wegen eines niedrigeren Eisenspiegels für weniger intelligent hielt, und von einem anderen Professor, der keine Frauen bei sich promovieren ließ, dann weiß ich, dass dieser Geist noch lange nachgewirkt hat.
Eine, die sich schon früh in Zeitungsartikeln über dieses Frauenbild humorvoll ausließ, war die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm, die natürlich zu Henriette Hirschfeld-Tiburtius ging, wenn sie Zahnschmerzen hatte. Kronprinzessin Victoria und der Kronprinz ließen sich ebenfalls von ihr behandeln.
Durch die Empfehlung einer Medizinhistorikerin komme ich zur Lektüre eines Buchs aus dem Jahr 1998, das aus einer Doktorarbeit über Henriette Hirschfeld-Tiburtius entstanden ist. Immer mehr bin ich gefesselt, bin beeindruckt über ihre Energie und unendlich berührt von ihrer Haltung, mit der sie zahllose soziale Projekte selbst initiierte oder unterstützte, sich für Frauen und Mittellose einsetzte.
Ihre Schwägerin Franziska Tiburtius und deren Kollegin Emilie Lehmus, die wohl ersten selbständigen Ärztinnen Deutschlands, haben 1876 die erste von Frauen geleitete „Poliklinik weiblicher Ärzte für Frauen und Kinder“ in der Alten Schönhauser Straße 23 gegründet, das weist die Gedenktafel aus. Dass aber Henriette Hirschfeld-Tiburtius nicht nur beide ermutigt und insbesondere ihre Schwägerin überzeugt hat, Medizin zu studieren, sondern auch die Gründung dieser Klinik wesentlich vorantrieb, erfahre ich erst durch diese Lektüre. Darüber hinaus richtete sie eine Pflegeanstalt für Frauen in ihrer Wohnung ein.
Mit Lina Morgenstern, die bereits Armenküchen eingerichtet hatte, gründete sie mehrere Institutionen zur Unterstützung alleinstehender oder in Not geratener Frauen.
Außerdem besuchte sie liberale, von Frauen geführte Salons, in denen solche Projekte unterstützt wurden. Aber auch ihre eigene Wohnung war Dreh- und Angelpunkt für verschiedene Frauenprojekte. Helene Lange und andere Frauen fanden sich hier ein. Es heißt, dass jede Frauenrechtlerin, die Berlin besuchte, auch ihr einen Besuch abstattete.
Ich hätte große Lust, sie auch zu besuchen, aber ich komme 150 Jahre zu spät. Wenigstens werde ich, wenn ich das nächste Mal nach Sylt komme, den nach ihr benannten Henriettenweg entlang ans Meer gehen und den Wind spüren, den sie vielleicht auch gespürt hat. Den Wind der Freiheit, der uns wie ein schöner Zauber immer dann anweht, wenn sich etwas verändert, richtiger wird und heiler als vorher.
Literatur bei der Verfasserin.
E-Mail: Dr.KatrinWolf_Autorin@gmx.de